Vorwärts, doch nichts vergessen!

Die bayerischen SchützInnenvereine haben sich beworben, und das Deutsche Brot will auch anerkannt werden. Es geht um die UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe, dem die Bundesrepublik Deutschland im Frühjahr 2013 beigetreten ist.

So fragwürdig das oft pathosgeschwängerte „Begehen“ von Gedenk- und Jahrestagen auch sein mag, der letztjährige Jahrestag zum Erinnern an die Gründung der organisierten deutschen ArbeiterInnenbewegung vor 150 Jahren hat einiges in Bewegung gebracht.

– Im Mannheimer Technoseum (Museum für Technik und Arbeit) gab es, gegen den herrschenden Geschichtsmainstream, eine erfolgreiche Ausstellung unter dem Titel „Durch Nacht zum Licht“, die sich mit der bewegten Geschichte der arbeitenden Menschen in Deutschland beschäftigt hat.
– Die IG Metall brachte nach zwanzigjährigem Sanges-Entzug endlich wieder ein gewerkschaftliches Liederbuch heraus, das vor allem auch ein ausgezeichnetes Geschichtsbuch ist.
– Und eine Initiative von KünstlerInnen, KulturwissenschaftlerInnen, GewerkschafterInnen und HistorikerInnen setzte mit dem Rückenwind des 150. Jahrestages den Antrag auf Anerkennung des ArbeiterInnenlieds als immaterielles Kulturerbe auf die Tagesordnung.

Warum? Weil ArbeiterInnenlieder als eine besondere Form des Volksliedes zu sehen sind, in

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denen die gesellschaftspolitischen Ziele und der mit Irrtümern und bedeutenden Erkenntnissen gepflasterte Lernweg und Gestaltungswille der deutschen ArbeiterInnenbewegung seit ihrem Beginn zum Ausdruck kommt, wie es im begleitenden Gutachten des Hamburger Musikwissenschaftlers Hermann Rauhe sinngemäß heißt. Franz-Josef Möllenberg, ehemaliger Vorsitzender der Gewerkschaft NGG, ergänzt in einem zweiten Gutachten aus gewerkschaftlicher Sicht: „Es waren die Lieder der ArbeiterInnenbewegung des frühen 19. Jahrhunderts, die dem Gedanken der Aufklärung, dem Ruf nach Selbstbestimmung und Freiheitsrechten in Deutschland zur Massenwirkung verhalfen. (…) Werte wie Würde, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Selbstbestimmung oder Respekt sind eng mit der Entstehung und Verbreitung des ArbeiterInnenliedes verflochten. In diesen Liedern spiegelte sich am eindringlichsten der demokratische Wille der Mehrheit, an der Gestaltung von Politik und Wirtschaft nicht nur teilzuhaben, sondern diese auch zu bestimmen. Die Entwicklung der deutschen und europäischen Demokratie ist aufs Engste mit dem selbstbewussten Erstarken der ArbeiterInnenbewegung und ihrer Kultur verbunden, denn die großen Veränderungen waren immer auch Ergebnisse eines harten kulturellen Ringens um das Gehörtwerden. Das ArbeiterInnenlied wurde zu einem wichtigen Kommunikationsmittel für die Vermittlung von Inhalten und die Weitergabe von Erfolgen und Niederlagen.“

150 Jahre ArbeiterInnenlied – ein Rückblick

Im Umfeld der HandwerkerInnenlieder, der kritischen SoldatInnenlieder und der Lieder der demokratischen Revolution von 1848 entstanden die ersten deutschsprachigen Lieder, die sich mit dem Schicksal und den Perspektiven der LohnarbeiterInnen beschäftigen („Das Blutgericht“, „Die Weber“, „Betʼ und arbeit“). Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges erlangten diese Lieder eine weite Verbreitung, wozu ironischerweise auch die repressiven SozialistInnengesetze beitrugen, die durch ihr Organisationsverbot ein Ausweichen der ArbeiterInnenbewegung u.a. in Gesangsvereine bewirkten. Schon in dieser Phase werden auch ArbeiterInnenlieder anderer Länder aufgenommen und teils übersetzt („Die Internationale“, „Warschawjanka“). War das ArbeiterInnenlied in dieser Phase und in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vor allem durch Umdichtungen bekannter Melodien geprägt, entwickelte sich Ende der 1920er Jahre im Umfeld der revolutionären Agitprop-Kultur auch eine musikalisch wie textlich neue und eigenständige Liedform („Solidaritätslied“, „Der heimliche Aufmarsch“), die vor allem von der großen ArbeiterInnenchorbewegung angenommen wurde. Anfang der 30er Jahre waren fast 500.000 Menschen in ArbeiterInnenchören aktiv.

Die faschistische Diktatur setzte nicht nur die ArbeiterInnenlieder auf den Index und verfolgte ihre SängerInnen und KomponistInnen – um die Wirkungskraft und den Erinnerungswert zu brechen, wurden viele der Lieder durch die Nazis auch in ihrem Sinne umgetextet. Doch auch im faschistischen Deutschland oder aus dem Exil heraus entstanden neue widerständige Lieder, die sich rasch verbreiteten („Die Moorsoldaten“, „Einheitsfrontlied“), und in den Konzentrationslagern lebten die alten Lieder als verbindendes Element fort.Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nimmt das ArbeiterInnenlied in den beiden deutschen Staaten eine sehr unterschiedliche Entwicklung. In der DDR gibt es eine staatlich geförderte Forschung, verbunden mit zahlreichen Veröffentlichungen („Der große Steinitz“). ArbeiterInnenlieder werden von Chören und bekannten SolistInnen (Ernst Busch) gesungen. Das Erlernen wird Teil des allgemeinen Musikunterrichts. In der Tradition des ArbeiterInnenliedes entstehen auch neue Lieder. Ihre politische Funktion ist jedoch eine veränderte. Sie sollen nicht mehr Ungerechtigkeit und Unterdrückung im eigenen Land anprangern, sondern die staatssozialistischen Verhältnisse befördern. Dieses affirmative und ritualisierte politische Lied gerät recht schnell in die Krise. In den 60er Jahren entsteht dann mit der vom Folksong inspirierten Singebewegung und den LiedermacherInnen eine neue, der ArbeiterInnenbewegung verbundene Liedkultur (Gundermann) mit breiterem Funktionsverständnis. Das Ende der DDR bedeutet auch das vorläufige Ende dieser eigenständigen Liedkultur.In der BRD sind nach 1945 die ArbeiterInnenlieder im offiziellen Kanon (Liederbücher, Schulen, Medien) nicht mehr präsent, und die neu gegründeten Gewerkschaften verabschieden sich selbst von ihrem musikalischen Erbe. „Erst die Aufbruchzeit Ende der sechziger Jahre richtet den Fokus wieder auf die demokratische deutsche Kulturtradition. Es wuchs das Interesse an den historischen Liedern der ArbeiterInnenbewegung. Zahlreiche Publikationen und Tonträgerveröffentlichungen dokumentieren diese Entwicklung. Die alten ArbeiterInnenlieder wurden wieder gesungen, am Lagerfeuer, bei Aktionen und Konferenzen. Es gab eine neue breite Chorbewegung, die sich dem ArbeiterInnenlied verbunden fühlte, und es entstanden neue Lieder, die die aktuellen sozialen und politischen Auseinandersetzungen widerspiegeln. Diese Entwicklung setzt sich bis in die heutige Zeit fort. Die demokratische Kultur in Deutschland ist eng mit der Kultur der ArbeiterInnenbewegung verknüpft. Die Lieder der ArbeiterInnenbewegung waren dabei nicht nur die Begleitmusik, sie gaben oft auch das Signal für notwendige gesellschaftliche Veränderungen und haben Verbreitung und Anerkennung in der ganzen Welt gefunden. So gesehen erfüllen sie in hohem Maße die Anforderungen, die an ein schützenswertes Kulturerbe gestellt werden“, endet Franz-Josef Möllenberg seine Laudatio für den Antrag.

Nachtrag

Aufgefallen ist mir bei der Arbeit an dem Artikel für die DA, dass die libertär-kulturelle Tradition der ArbeiterInnenbewegung in Deutschland kaum dokumentiert oder nicht auffindbar ist (im Gegensatz zu Spanien, Italien oder Frankreich). Vielleicht kann dieser Artikel auch ein Anstoß sein, sich mit der eigenen Kulturgeschichte mehr zu beschäftigen.

Wer das Anliegen unserer Initiative unterstützen möchte, findet auf meiner Webseite entsprechende Hinweise und den Antragstext als PDF-Download.

(www.ewo2.de/berndkoehler)

 

 

Bernd Köhler ist Grafiker, Texter und Musiker und wurde vor allem
durch seine Aktions- und Streiklieder bekannt. Seit zehn Jahren
begleitet er den „AlstomChor“, einen betrieblichen Chor in Mannheim.
2013 erschien seine Buch- und CD-Produktion „Keine Wahl“ mit
Arbeitskampfliedern aus den letzten vier Jahrzehnten (www.jump-up.de).

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