Prekarisierung als Branchenpolitik

Die Tarifrunde im Einzelhandel 2013 war mit achtmonatiger Dauer, 25.000 Streikenden und 1.000 bestreikten Betrieben im vergangenen Jahr sicherlich einer der bedeutendsten Arbeitskämpfe. Den Begleit-Sammelband dazu liefert nun Anton Kobel in der VSA-Reihe „Widerständig“, in der bisher schon Bände über den Fall „Emmely“ sowie Arbeitskämpfe in der Pflege erschienen sind.

Tarifauseinandersetzung: Einfach nur langweilig?

Gerade aus dem Kampf im Einzelhandel lässt sich, zumal für kleine Gewerkschaften, viel lernen: Denn mit 15 bis 20 Prozent Organisierungsgrad ist ver.di im Einzelhandel in einer Minderheitenposition. Gleichzeitig ist die Gewinnmaximierungsstrategie – die „Prekarisierung als Branchenstrategie“, wie Kirsten Huckenbeck sie in ihrem Buchbeitrag nennt – exemplarisch für Entwicklungen, die Streiks und Tarife immer unmöglicher machen und sämtliche Gewerkschaften in eine Defensivposition drängen. Outsourcing, Leiharbeit, Werkverträge und Tarifflucht dominieren die Branche. Und in den Rahmen der „Tarifflucht“ gehört auch die Aufkündigung des Flächentarifvertrags: Der Arbeitskampf wurde von der UnternehmerInnenseite aufgezwungen. Was das sollte, wird schnell klar: Es macht einen Unterschied, wenn Gewerkschaften mehr und mehr auf Werkverträge aufmerksam werden und man zur Sicherheit doch lieber einen Dumpinglohn per Tarifvertrag möchte, um ähnlich weiterzahlen zu können. Und ebenso macht es einen Unterschied, schnell noch einen neuen Tarifvertrag mit Niedrigstlohnstufen zu vereinbaren, bevor der gesetzliche Mindestlohn in Kraft tritt – der ja, ähnlich wie in der Regelung „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, in der Leiharbeit eben eine Ausnahme kennt: nämlich die Tarifverträge.

Mobilisierbarkeit der „einfachen KollegInnen“

Die Autorinnen und Autoren des Buches weisen diesbezüglich mehrfach darauf hin, welche Dynamik sich unter den Streikbereiten entwickelt hat: 32.071 Neueintritte sprechen für eine große Bereitschaft der Belegschaften, sich gegen die Entwicklungen zu wehren. Das Buch zeigt immer wieder auf, dass es sich hier eben nicht um „Unorganisierbare“ oder „Gewerkschaftsferne“ handelt, sondern zeugt von einem hohen Bewusstsein der eigenen Situation.

Die Lage, in der dieser Streik sich entwickelte, hat damit aber noch andere Bedeutungen: Unter den beschriebenen Umständen ist es klar, dass eine einfach Arbeitsniederlegung von einer Minderheit von 15 – 20 Prozent Organisierten die Gegenseite kaum zum Einknicken bringt: „Ein Streik muss ökonomisch weh tun“ – diese Binsenweisheit gelangt allmählich wieder ins Bewusstsein. Ein wesentlicher Bestandteil sind daher kreative Streikstrategien, Solidarität von außen und die Debatte um internationale Strategien. Der außerbetrieblichen Solidarität ist in dem Buch ein Abschnitt mit drei Beiträgen gewidmet, und die internationale Ebene des Konflikts beleuchten abschließend Bodo Zeuner und Ingeborg Wick mit dem Vorschlag von Solidarität entlang von Produktionsketten: Immer wieder taucht in den Interviews mit StreikaktivistInnen, die der Herausgeber geführt hat, der Aspekt auf, dass die Brandkatastrophe in Bangladesh ein wichtiges Thema im Streik war.In den Interviews werden auch die Probleme deutlich, die der Streik mit sich bringt. Das ist an erster Stelle die innergewerkschaftliche Demokratie: Streikende zeigen sich oft enttäuscht über nicht stattfindende Informationsweitergabe oder Konsultationen. Ähnliches gilt auch für die Frage der Solidarität von außen, denn welches Ausmaß diese annehmen soll und ob diese eine reine Mitgliederwerbekampagne oder aktionistisch orientiert sein soll, auch darüber sind sich Streikende und Gewerkschaftsfunktionäre oft nicht einig.Insofern zeigt das Büchlein nicht einseitig eine Erfolgsgeschichte – gerade im analytischen Teil wird deutlich, dass hier ein Angriff von Unternehmensseite nur kurzfristig verschoben werden konnte. Die Hinweise, wie der Arbeitskampf in Zukunft strategisch zu führen ist, um aus dem „Aufgeschoben“ ein „Aufgehoben“ zu machen, finden sich jedoch auch.

Anton Kobel (Hrsg.): „Wir sind stolz auf unsere Kraft“Der lange und phantasievolle Kampf um die Tarifverträge 2013 im EinzelhandelHamburg, VSA-Verlag ISBN 978-3-89965-633-6, 112 Seiten, 10,- Euro

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