Theoretisch nett gedacht – praktisch aber so nicht gelebt

Analog zu den anderen ehemaligen Ländern des „Ostblocks“ wurden in den baltischen Ländern zu Beginn der 90er Jahre betriebliche Interessenvertretungen der ArbeitnehmerInnen eingeführt. Ähnlich wie in der ehemaligen DDR gab es hier zudem nur eine Pflicht(pseudo)gewerkschaft, die jedoch keine Streiks oder Tarifverhandlungen durchführen konnte, betriebliche Mitbestimmungsorgane gab es praktisch nicht. Dies beeinflusst bis heute die nur marginale gewerkschaftliche Organisation der ArbeiternehmerInnen – wie auch politische Prozesse in diesen Ländern. Es gibt keine Kultur des aktiven gesellschaftlichen Mitgestaltens, die Menschen dort nehmen im Gros an, dass sie sowieso nichts ändern könnten. Der/Die aufmerksame Lesende stellt vielleicht fest, dass dies im Bereich der Nachfolgestaaten der Sowjetunion durchaus ähnlich zu bewerten ist.

In allen Ländern sanken die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften ab den 1990 Jahren, wobei zu beachten ist, dass die Gewerkschaften eben keine wirklich agierenden gesellschaftlichen Kräfte waren, sondern zunächst die „Alt“-Mitglieder aus den vormaligen Sowjetgewerkschaften die Mitglieder stellten. Gewerkschaft ist nach wie vor in allen drei Ländern ein Lernprozess, der noch in den Kinderschuhen steckt. Ich würde an dieser Stelle auch gerne von syndikalistischen Gewerkschaftsformen schreiben, aber mir sind bis jetzt wirklich keine ernsthaften Ansätze hierzu bekannt.

Gesetzliche Grundlagen im Baltikum

In den drei baltischen Ländern unterscheiden sich diese Gesetze zur betrieblichen Mitbestimmung nur geringfügig. In allen drei Ländern können sogenannte Betriebsgewerkschaften gebildet werden, es muss also jeweils eine bestimmte Anzahl an Beschäftigten in eine Gewerkschaft eintreten und damit eineN gewerkschaftlicheN DelegierteN unter sich selbst oder von außerhalb als Mitbestimmungsorgan im Betrieb wählen. In Lettland gibt es zusätzlich seit 2002 auch die Möglichkeit, eine betriebliche Interessenvertretung analog zum deutschen Betriebsrat zu schaffen. In Litauen ist eine reine Belegschaftsvertretung nur möglich, wenn es keine Betriebsgewerkschaft gibt beziehungsweise eine Branchengewerkschaft mit Vertretungs- und Schutzfunktion von den ArbeitnehmerInnen im Betrieb beauftragt wurde. In Estland können die betrieblichen Beteiligungsrechte durch eine Vertrauensperson der Beschäftigten wahrgenommen werden, die in der Praxis meist aus den Gewerkschaften kommt. In allen drei Ländern haben die Interessenvertretungen das Initiativrecht, ebenso wie der/die ArbeitgeberIn. In Litauen und Lettland können mit den ArbeitgeberInnen so Betriebsvereinbarungen und auch Tarifverträge auf Betriebsebene abgeschlossen werden. In Estland haben die Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten nur eine geringe Reichweite, da den VertreterInnen der Gewerkschaften kaum rechtliche Sanktionsmaßnahmen zustehen, wie sie beispielsweise Betriebsvereinbarungen erzwingen könnten.

Praxis in Litauen

Was in der gesetzlichen Theorie so gut klingt, wird in der Praxis allerdings wesentlich

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drastischer gelebt. Schon in Deutschland ist die Durchsetzung der Rechte der Betriebsräte und Gewerkschaften nicht sehr einfach. Aber was, wenn es nicht mal relevante Gewerkschaften gibt? Dies ist gerade in Litauen der Fall, es ist eines der am wenigsten organisierten Länder Europas. Dort gibt es nur einen Anteil von zehn Prozent an allen abhängig Beschäftigten, die sich auf drei große Gewerkschaftsverbände verteilen. In der Folge verwundert es nicht, dass aktuellen Schätzungen zufolge gar nur 2,2 Prozent aller Betriebe einen Tarifvertrag haben. Noch schlimmer bei den Branchentarifverträgen: Das Arbeitsministerium verzeichnet sage und schreibe einen einzigen Vertrag für JornalistInnen, in dem dann jedoch nicht einmal Entgeltsätze festgelegt sind. Allerdings gibt es seit den letzten Jahren vermehrt regionale Tarifvereinbarungen, wie etwa in Westlitauen.Auf Litauen trifft meine obige These am krassesten von allen drei Ländern zu: es gibt einfach keine Kultur, mit seinen Chefs über Löhne zu reden, geschweige denn Verbesserungen zu erkämpfen. Bis heute werden in Litauen die meisten Löhne von den ArbeitgeberInnen festgelegt. In Estland und Lettland ist die Situation diesbezüglich etwas weniger drastisch.

Praxis in Estland und Lettland

Auch in Estland liegt der Organisationsgrad der ArbeiterInnen bei nur zehn Prozent, in Lettland nur unwesentlich höher bei 13 Prozent. Die geschlossenen Tarifverträge, meist ebenso auf betrieblicher Ebene, sind aber wesentlich zahlreicher als in Litauen. Statistisch sind in beiden Ländern ein Drittel der Betriebe tariflich geregelt. Dabei ist es in Estland üblich, insbesondere Arbeitsentgelte direkt zwischen Beschäftigten und ArbeitgeberInnen auszuhandeln. Wenn es sich tatsächlich um Tarifvereinbarungen handeln würde, müssten diese an eine nationale Behörde weitergegeben werden. Die ArbeitgeberInnen wollen die Vereinbarungen meist nicht offenlegen. Deshalb könnte die Zahl der tariflichen Reglungen höher liegen. In Estland existieren auch mehrere Branchentarifverträge. In Lettland gibt es um die 25 Branchentarifverträge sowie zahlreiche Tarifvereinbarungen auf betrieblicher Ebene, hier überwiegen aber die staatlichen Betriebe klar. Gerade der Privatsektor und dort besonders Branchen wie der Einzelhandel und das Hotel- und Gastronomiewesen sind nahezu ungeregelt.1

Soziale Lage in den baltischen Ländern

Natürlich muss man sich bei all diesen Aspekten auch die soziale Realität vor Augen führen. Insbesondere in Lettland und Litauen steht es um Wirtschaft und Beschäftigung schlecht. Dabei führen beide Länder mit Deutschland zusammen oft die europäischen Rankings für atypische Arbeitsverhältnisse und flächendeckende Niedriglöhne an. In Lettland litten beispielsweise 2010 über 25 Prozent der Beschäftigen unter Löhnen unter dem nationalen Niedriglohn, gleich dahinter kam dann schon Litauen. Zum Vergleich waren es in Deutschland damals 22 Prozent, in Frankreich aber beispielsweise nur knapp sechs Prozent. Zudem gibt es in beiden Ländern eine hohe Armutsquote und auch eine immer noch deutlich niedrigere Lebenserwartung als in anderen europäischen Ländern. In Estland ist die Lage anders, da hier die Wirtschaft bereits vor der letzten Wirtschaftskrise vor sechs Jahren besser aufgestellt war als in den anderen baltischen Ländern.2 Estland hatte bereits zwei Jahre nach der Krise (2011) wieder eine steigende Beschäftigungsquote, Tendenz steigend. Einzig die hohe Arbeitslosigkeit unter den Nicht-EstInnen (einer Gruppe, die hauptsächlich die russische Minderheit betrifft, die ein Viertel der Bevölkerung ausmacht) bildet hier eine Ausnahme. Diese Gruppe ist durch sprachliche und bildungspolitische Barrieren stärker von der Armut betroffen.

Anmerkungen

 

[1] Einen sehr guten Überblick zu diesem gesamten Komplex bietet:de.worker-participation.eu/Nationale-Arbeitsbeziehungen/Laender[2] Ein sehr ausführlicher Bericht, der die Lage in Estland beschreibt, befindet sich unter folgender Adresse: www.eesc.europa.eu/resources/docs/qe-30-12-149-de-c.pdf

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