Arbeiter und Arbeitslose in einer bürgerlichen Revolution

Die Märzrevolution von 1848 wird in den Geschichtswissenschaften meist als „bürgerliche Revolution“ dargestellt, oft sogar als „deutsche Revolution“. Beide Begriffe sind irreführend: Zwar waren die Ergebnisse dieser Revolution durchaus „bürgerlich“: In den Schulen ist die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche und die Erarbeitung einer Verfassung das wesentliche Element, das von der Revolution geblieben ist. Die AkteurInnen, die aber tatsächlich die Revolution durchführten, waren ArbeiterInnen bzw. Arbeitslose. Das Bürgertum profitierte letztlich von diesen militanten ArbeiterInnen, die es gleichzeitig fürchtete und inhaltlich zurückdrängte.

1848 war weiterhin weder nur ein deutsches noch nur ein europäisches Phänomen: Es war eine globale Revolution in einem Ausmaß, wie es erst in den Revolutionen von 1910 (Mexiko) bis 1936 (Spanien), dann 1968 sowie in den heutigen globalen Kämpfen wiederkehren sollte. Neben die bekannteren Beispiele in Frankreich – dem Vorspiel zur Revolution in Deutschland – und Italien treten Revolutionen z.B. in Ungarn, der Ukraine und Rumänien wie auch in Kanada, Nueva Granada (Kolumbien, Venezuela, Panama) oder Brasilien.

Die Rolle der frühen Arbeiterbewegung

Dass 1848 in der frühen Arbeiterbewegung eine wesentliche Rolle spielt, ist offensichtlich: Nicht umsonst erscheint eben in diesem Jahr mit dem „Manifest der kommunistischen Partei“ der Schlüsseltext der jungen Bewegung. Der 18. März, der Jahrestag der Berliner Barrikadenkämpfe, ist bis nach dem Haymarket Riot 1886 der Feiertag der Arbeiterbewegung – gleichzeitig erinnert er an die Pariser Kommune 1871. Ab 1922 wird er von der Roten Hilfe zum „Tag der politischen Gefangenen“ deklariert.

Namentlich steht vor allem Stefan Born und seine kurzlebige „Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung“ (AdA) für die Beteiligung der ArbeiterInnen. Born organisierte – entsandt von Marx im Auftrag des „Bund der Kommunisten“ – vor allem die Berliner Buchdrucker. Die Buchdrucker – und auch Buchdruckerinnen – gelten seinerzeit als „Avantgarde“ der jungen Bewegung. Der schnelle Wandel des Druckgewerbes ist exemplarisch für die Industrialisierung. Der Beruf brachte eine Belesenheit mit sich und die massive Ausweitung des Drucks führte zu zahlreichen politischen Publikationen. Gleichzeitig ging die Entwicklung der Druckindustrie durchaus mit einer Abqualifizierung und Prekarisierung einher, auch zu Frauenarbeit an den Druckpressen. Die lesenswerte SPD-Haushistorikerin Helga Grebing hat 2013 zum 150jährigen Jubiläum der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (AdAV) um Ferdinand Lassalle kritisiert, dass die Geschichte des AdA hier fast immer übergangen wurde.Stefan Born selber beschreibt rückblickend, wie aus der rein theoretischen kommunistischen Bewegung eine selbstbewusste Arbeiterbewegung wurde: „Weggewischt waren für mich mit einem Male alle kommunistischen Gedanken, sie standen mit dem, was die Gegenwart forderte, in gar keinem Zusammenhang… Was kümmerten mich entfernte Jahrhunderte, wo jede Stunde nur dringende Aufgaben und Arbeit in Fülle darbot“.1

Frühe Sozialdemokratie gegen Protosyndikalismus

Angesichts der „wirklichen Bewegung“, wie Marx es in der „Deutschen Ideologie“ nannte, verblassten die theoretischen Debatten, die auch im Bund der Kommunisten und beim frühen Marx noch den utopischen Odem des Frühsozialismus atmen. Dieser Pragmatismus Borns ist zwar einerseits sympathisch, begründet aber andererseits auch tatsächlich die Idee der Sozialdemokratie: „soziale Reformen im demokratisch organisierten Staat“, wie Grebing es formuliert. Stefan Borns „Arbeiterverbrüderung“ konzentrierte sich auf „qualifizierte Fabrikarbeiter und die Schicht der proletarisierten Handwerker“2 und grenzte sich scharf von einem angeblichen „Lumpenproletariat“ ab, unter dem z.B. Ungelernte, Tagelöhner und Arbeitslose verstanden wurde. Gegen diese ArbeiterInnen-Gruppen wurde eine angebliche „proletarische Moral“ von Fleiß, Anständigkeit und Ehre formuliert, die „direkte Aktion“ als Mittel wird von Born abgelehnt. Die erste spezifische Arbeiterorganisation in Deutschland ist dann für Born auch eine „Ordnungsmacht, die zusammen mit dem Bürgertum die errungenen Freiheiten gegen die Reaktion verteidigen soll“, bis, so Born selber, „wir es dahin bringen, dass wir als Arbeiterklasse, als eine Macht im Staate dastehen“.3 Stefan Borns Konzept entspricht hier der damaligen Vorstellung von Karl Marx, in einem Bündnis von Bürgertum und Arbeiterklasse vorerst eine bürgerliche Revolution zu gestalten. Bartnik und Bordon betonen, dass diese Vorstellungen Borns – ständig wiederholte Aufrufe zu Disziplin, Sauberkeit und Pünktlichkeit – einerseits dazu beigetragen habe, die kapitalistische Fabrikmoral durchzusetzen und andererseits die revolutionären Energien so kanalisierte, dass die Etablierung und Positionierung der SPD ein Ergebnis war – und zwar als „eine der größten Niederlagen [der deutschen Arbeiterbewegung, Anm. des Autors]“4

Doch diese Position wurde keineswegs überall geteilt. Kann man die „Arbeiterverbrüderung“ und Stefan Borns Zeitung „Das Volk“ auch inhaltlich als Prototyp der deutschen Sozialdemokratie betrachten, so formulierte Gustav Adolph Schlöffel in seiner Zeitung „Der Volksfreund“ Ideen, die später im Syndikalismus wieder auftauchten: Schlöffel, beeinflusst vom Frühsozialismus, sah keine Möglichkeit eines Bündnisses von ArbeiterInnen und BürgerInnen, denn dieses hatte längst ein Bündnis mit dem Junkertum, ein Bündnis der herrschenden Klassen, geschlossen, das die ArbeiterInnen für sich kämpfen ließ und diese dann fallen ließ wie eine heiße Kartoffel. Gegen ein solches Bündnis setzte Schlöffel eine spezifische „Organisation der Arbeiter und der Arbeit“, so der Titel einer unvollendeten Artikelserie. Schlöffel betont hier den engen Zusammenhang von ökonomischem und politischem Kampf und formuliert Grundsätze des Syndikalismus: „keine Isolierung der Arbeiterorganisation außerhalb des Produktionsbereichs in Form etwa einer politischen Partei, sondern Entwicklung von Kämpfen in Wechselwirkung der Arbeiterassoziationen auf Betriebs- und Branchenebene“.5

Wer war Gustav Adolph Schlöffel?Das "Lied der Rehberger" beschreibt satirisch und dennoch entlang der Tatsachen die damaligen Lebensumstände.

Der schlesische Fabrikantensohn G.A. Schlöffel hatte ab 1846 in Heidelberg Philosophie studiert und sich dort im geheimen „Neckarbund“ an der badisch-pfälzischen Revolution beteiligt. Aus dem Neckarbund heraus initiierte Schlöffel 1847 einen ersten Arbeiterverein mit. Verschiedentlich ist er bei Aufständen in Baden und im Odenwald zu finden, u.a. als Kritiker des Revolutionsführers Friedrich Hecker, der ihm nicht radikal genug vorgeht. 1848 reist er nach Berlin, wird hier agitatorisch tätig. Am 10. Mai 1848 wird er wegen Aufruhrs verhaftet. Seine sechsmonatige Haft verbüßt er in Magdeburg, flieht aber drei Wochen vor Ende der Haft, um an den revolutionären Ereignissen in Wien teilzuhaben. Von dort aus verschlägt es ihn in die ungarische Revolution. Nach einer Intrige kehrt er ins Badische zurück, arbeitet eine Zeit lang als Frankfurter Parlamentskorrespondent für die „Neue Rheinische Zeitung“ Als in der Pfalz die revolutionären Kämpfe wieder entfachen, wird er hier tätig und am 21. Juni 1849 im Gefecht durch eine preußische Kanonenkugel getötet – angeblich ist er, angesichts der verlorenen Schlacht, mit wehender Fahne den gegnerischen Preußen entgegen gestürzt, um seinem Leben ein Ende zu setzen.6

Die Rehberger

Der Resonanzboden, auf dem das radikale, proletarische Engagement in Berlin 1848 stattfindet, sind die Rehberger: 1.500 Berliner Arbeitslose, die zu Notstandsarbeiten in den Rehbergen am Stadtrand von Berlin zwangsverpflichtet wurden. „Die Erkenntnis der Absurdität ihrer Arbeit, die zum Teil nur darin bestand,

„Die scheene Zeit ist bald entfloh’n,
Drum nu noch frisch jetummelt.
Heit jeht et noch uf Dagelohn,
Doch ach Herrje, von morgen schon
Wird uf Accord jebummelt!“

Sandhügel abzutragen, um sie woanders wieder aufzuschichten, förderte bei den Beschäftigten schnell das Bewusstsein, dass der ihnen bezahlte Lohn […] nur ein Bestechungsgeld für die Nichtbeteiligung an den Straßenunruhen darstellte“7 – wer fühlt sich da nicht an die Hartz IV-Maßnahmen erinnert!

Entsprechend waren Bummelstreik und Sabotage unter den Rehbergern an der Tagesordnung, ebenso Holzdiebstahl als „Lohnzuschuss“ und Widerstand gegen die Vorarbeiter – und sie beteiligten sich eben auch an den Straßenkämpfen. Meist wohnungslos, siedelten die Rehberger sich in einfachen Holzhütten direkt an ihren Arbeitsplätzen an. Durch diesen engen Lebenszusammenhang etablierte sich unter ihnen eine eigene subproletarische Kultur, zu der z. B. die „Katzenmusiken“ gehörten, die Politikern vorgespielt wurden. In den bürgerlichen und proto-sozialdemokratischen Publikationen galten die Rehberger als faul und zügellos, gleichzeitig werden sie als „grobe Gestalten“ dargestellt. Robert Springer beschreibt sie zeitgenössisch wie folgt:„Sie arbeiteten, wie man sagt, wenig, lebten aber sonst einträchtig, prügelten sich gemütlich, widersetzten sich den Schachtmeistern […]. […] Man sah sie häufig vom Morgen bis zum Abend in drohenden Haufen vor dem Berliner Rathause, Lohnerhöhung fordernd oder irgendeine Beschwerde führend; in dem politischen Klub traten einzelne Begabte unter ihnen zuweilen als Redner auf und ergänzten den mangelnden Ausdruck ihrer Rede durch die vielsagende Mimik ihres Knotenprügels […]“8Schlöffel und andere erkannten dagegen ein Potential in den Widerstandsformen der Rehberger. Er verteilte den „Volksfreund“ umsonst unter ihnen und formulierte Flugblätter mit ihnen. Die „Rehberger“ standen für die nicht-integrierbaren, militanten Arbeiterschichten, mit denen weder Bürgertum noch das vermeintliche „Proletariat“ viel zu tun haben wollte.

Theorien des Scheiterns

Diese Gründungsspaltung der Arbeiterbewegung hat sich im Prinzip bis heute erhalten: Wir finden sie in der Trennung von Kernbelegschaften und LeiharbeiterInnen bzw. noch stärker osteuropäischen WerkverträglerInnen. Wir finden sie in der Trennung von „ordentlichen“, tariflichen Streiks und den Riots etwa in Athen, Paris, London oder Stockholm. Global sind sie die „Überflüssigen“ oder „Überzähligen“, wie Marx sie genannt hat, deren Widerstandsmittel wir nicht verstehen (wollen) – einschließlich fundamentalistisch religiöser Strömungen. Mit diesen Trennungen einher geht seit 1848 oder sogar früher die Trennung einer angeblich vernünftigen, politischen und „bewussten“ Arbeiterbewegung und der „anderen Arbeiterbewegung“, wie Karl Heinz Roth sie genannt hat, die ihre direkten (ökonomischen) Interessen – Nahrung, Kleidung, Unterkunft – in Brotkrawallen, Raub und Überfall oder eben in genannten Riots durchsetzten – vermeintlich irrational und ohne dieses dubiose „Klassenbewusstsein“. E.P. Thompson hat bereits vor 50 Jahren darauf hingewiesen, dass die Beschreibung solcher Klassenkämpfe nicht als „primitiv“ bezeichnet werden kann.9

Diese am Beispiel 1848 zu sehende Klassenzusammensetzung und –spaltung war es letztlich auch, die aus dem jungen revolutionär Marx den Theoretiker gemacht hat, der, wie Ahlrich Meyer schreibt, sodann eine „Theorie der Niederlage“ formulierte: „Die Kritik der politischen Ökonomie ist ihrem Selbstverständnis nach keine Revolutionstheorie. Jedenfalls hat die Konstitution des revolutionären Subjekts in ihr keinen systematischen Ort“.10 Die Revolution von 1848, in die auch Karl Marx – siehe eben das Manifest! – große Hoffnungen gesteckt hatte, wurde für ihn die Grundlage für eine Theorie, die die sozialen Bewegungen „an die Entwicklung und Modernität des Kapitals“ bindet.11 Damit wurde auch nur das moderne Proletariat – das Industrieproletariat – zum privilegierten Träger der Revolution und manifestierte eine viele Arbeitende – MigrantInnen, ReprodutkionsarbeiterInnen u.v.a. – ausschließende Tradition, die sich sowohl in Partei-Marxismus wie auch in der Sozialdemokratie historisch und aktuell widerspiegelt.

Quellen:

[1] Zitiert nach Grebing, Helga: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. München 1970. S.44[2] Bartnik, Norbert und Frieda Bordon: Die Rehberger. Subkultur der Berliner Erdarbeiter um 1830. S.80. In: Bergmann/Janssen/Klein (Hrsg.): Autonomie im Arbeiterkampf. Beiträge zum Kampf gegen die Fabrikgesellschaft. München/Hamburg 1978. S.67 – 87[3] Ebd. S. 81[4] Ebd. S. 68 f.[5] Ebd. S. 83[6] Vgl. Wernicke, Kurt: Die Spuren eines Revolutionärs. Revolutionär Gustav Adolph Schlöffel (1828–1849). Berlinische Monatsschrift Heft 6/99. S.53 – 59[7] Bartnik/Bordon, S. 73[8] Zitiert nach Schulz, Ursula (Hrsg.): Die Deutsche Arbeiterbewegung 1848 – 1919 in Augenzeugenberichten. Düsseldorf 1976. S.62[9] Thompson, E.P.: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse. Frankfurt a.M. 1987. S.636f[10] Meyer, Ahlrich: Eine Theorie der Niederlage. Marx und die Evidenz des 19. Jahrhunderts. S.323. in: Roth, Karl Heinz und Marcel van der Linden (Hrsg.): Über Marx hinaus. Berlin/Hamburg 2009. S. 311 – 333[11] Ebd. S. 323

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