Deutschland war für einen Tag erneut im Lockdown, erklärten wütende Kapitalvertreter:innen. Doch am 27. März war es kein Virus, der das Land lahmlegte. Es waren die Beschäftigten von Bahn und Öffentlichem Nahverkehr, die im Rahmen ihres Tarifkampfs in einen eintägigen bundesweiten Warnstreik traten.
Er wurde im Wesentlichen von den DGB-Gewerkschaften Verdi und EVG getragen und hat eine Ahnung von der Macht der Lohnabhängigen vermittelt. „Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will“, heißt es in einem bekannten Lied der frühen Arbeiter:innenbewegung von 1863. Der Spruch hat auch 160 Jahre später nichts von seiner Bedeutung verloren, da mögen postmoderne Theoretiker:innen auch noch so oft die Arbeiter:innenbewegung beerdigen. Von der Stärke der organisierten Arbeiter:innen bekamen wir beim Warnstreik vom 27. März eine Ahnung.
In Frankreich konnten wir in den letzten Monaten sehen, wie das Land stillsteht, wenn die Arbeiter:innen sich ihrer Macht bewußt werden. Dort protestieren seit Monaten Hunderttausende gegen die Erhöhung des Renteneinstiegsalters. Wenn der rechtsliberale französische Präsident Macron gedacht hat, dass der Widerstand zusammenbricht, wenn er die Erhöhung des Rentenalters ohne Parlamentsbeschluss durchsetzt, hat er sich getäuscht. Die Zahl der Protestierenden ist sogar noch einmal gewachsen und ihre Wut ist groß. In einer Reportage in der Tageszeitung junge Welt bekommt man davon einen Eindruck: Ein Beschäftigter wird mit der Aussage zitiert: „Diese Reform ist Mist, und wir werden sie in die Tonne kloppen!“ Die Lebenserwartung der Müllarbeiter:innen liege zehn bis fünfzehn Jahre unter dem nationalen Durchschnitt. „Zwei Jahre länger malochen bedeutet für viele, dass sie noch vor ihrer Rente sterben werden.“ Überhaupt gehe es mittlerweile um mehr als die »Rentenreform«: „Wir wollen eine andere Gesellschaft, es reicht, dass immer die gleichen die Zeche zahlen, während einige wenige Superprofite erzielen.“
Genug ist genug – das könnte auch in Deutschland zum Motto einer Arbeiter:innenbewegung werden, die gerade in Zeiten von steigender Inflation nicht mehr bereit ist weiter für die Krise zu zahlen und Reallohnverluste hinzunehmen. Der beste Kampf gegen steigende Mieten und Energiepreise wären Streiks für mehr Lohn, die den Bossen auch wehtun. Denn nur dann sind sie wirksam. Da haben uns die Kolleg*innen Frankreich einiges voraus.
Dass auch in Deutschland genügend Kampfbereitschaft bei den Kolleg*innen vorhanden ist, zeigte sich Anfang März, als 86 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten bei der Post in einer Urabstimmung für einen Erzwingungsstreik gestimmt haben, mit dem sie 15 Prozent mehr Lohn durchsetzen wollten. Mit dem guten Ergebnis im Rücken, wurde aber nicht sofort mit dem Streik begonnen. Vielmehr ging die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in eine erneute Verhandlungsrunde und akzeptierte einen Abschluss, der sicher einige Verbesserungen aber auch Reallohnverluste bedeutet. Vor allem aber wurde hier wieder einmal eine Chance vertan, dass kampfbereite Arbeiter:innen ihre eigene Macht spüren und auf jeden Fall ein besseres Ergebnis erreichen.
„Harte, lange Streiks haben eines gemeinsam, sie durchbrechen den gewohnten Tagesablauf“, schreibt die Literaturnobelpreisträgerin von 2022, Annie Ernaux, in der Le Monde Diplomatique. Dort erinnert sie an die Wochen des großen Arbeitskampfes vom Winter 1995, der erfolgreich zu Ende ging. „Eine Woche lang war ich wohl nicht die Einzige, die glaubte, wir befänden uns in einer vorrevolutionären Situation“, erinnert sich Annie Ernaux an diese Wintertage vor 28 Jahren.
Damals schien alles möglich, weil Millionen Lohnabhängige „Genug ist genug“ sagten und weil es kämpferische Gewerkschaften gab, die Streiks und Blockaden organisierten. Hier besteht auch eine große Chance für die FAU, eine kämpferische Alternative zur in den DGB-Gewerkschaften verbreiteten Standortlogik zu bieten.