Der Autor und Journalist Fréderic Valin beschäftigte sich bereits in dem Buch Pflegeprotokolle (2021) mit den Arbeitsbedingungen im Care-Bereich in Form von Gesprächsprotokollen. Mit dem autobiografischen Roman Ein Haus voller Wände legt er nach und richtet den Fokus noch mehr auf die zu Pflegenden.
Betreutes Wohnen als totale Institution
Schon die erste Seite handelt von den Belastungen, die das erzählende Ich Johannes jeden einzelnen Arbeitstag als Pfleger in den letzten sieben Jahren erbringen musste: Wir begegnen ihm nach Kündigung beim Löschen seiner Weckzeiten in seinem Handy: wochentags 4.45 Uhr, samstags 5.46 Uhr, Sonntage 5.30 Uhr. Einzelne Passagen berichten von dem schlechten Schlaf, der sich durch die gewaltige Verantwortung einstellt, exzessiven Kaffeekonsum („Manch einer sieht mich tadelnd an: die Gesundheit! Das ist mir egal, egal. Morgens um fünf hat man keine Gesundheit, bloß irgendeinen Körper“ (S. 87). Und wenn wir ohne Vorerfahrung raten, was alles schlecht laufen könnte bei diesem Beruf, würden wir vermutlich zu 100 Prozent richtig liegen: Der Träger der Einrichtung ist christlich, will heißen: freie Meinungsäußerung als Atheist:in ist ein Kündigungsgrund; es gibt keinen Betriebsrat und der mit Druck erzeugte christliche Kuschelkurs bei Tarifverhandlungen ergibt eine Bezahlung unter Tarif.
Doch all das ist nicht einmal das wirklich Entsetzliche an Johannesʼ Arbeit. In den gelungenen und häufig essayistischen Passagen reflektiert Johannes unter anderem über Erving Goffmans theoretisches Konzept der totalen Institutionen, in denen es keine Trennung zwischen Schlaf, Arbeit und Freizeit gibt. Ein Begriff, den Goffman eigentlich für Asyl-Heime verwendet. Wir lernen in Ein Haus voller Wände wie beängstigend treffend er sich für betreute Wohnanlagen eignet.
Natürlich ist auch bekannt, welch ausbeuterische Verhältnisse in Werkstätten vorherrschen: mit einem Lohn von 150 Euro für einen Monat Arbeit mit einer 35-Stunden-Woche. Diese Kritik ist oft zu hören und das notwendig Beängstigende an Valins Roman ist, dass wir Figuren vor uns haben, die uns eindringlich verdeutlichen, wie sich dieses Faktum anfühlt, was es mit Deiner Psyche machen kann.
Ableistische Gesetzgebung
Eine Figur des Romans ist Stefan. Stefan will in keiner Werkstatt arbeiten, weil er Maler ist. Trotz interessierten Käufer:innen hat er keine Möglichkeit, seine Kunst zu vermarkten aufgrund bürokratischer Hürden, amtlicher Transferleistungen. Unsere Gesetze sind darauf ausgelegt einen Künstler wie Stefan sogar doppelt zu hassen. Er kostet als Bewohner einer Wohnanlage Geld. Angeblich würde er als Arbeiter sogar Geld kosten, was der angebliche Grund ist, ihn sklavenhaft zu entlohnen. Doch wer noch nicht einmal zum angeblichen Zweck der Integration arbeitet, ist … Was? Verachtenswert? Dies sagt die Höhe seines Taschengeldes aus, die ihm jegliche gesellschaftliche Teilnehme verwehrt. Stefan bekommt zwei Euro die Woche.
Wir begleiten in dem Roman Stefan und Johannes beim Gang in den Supermarkt. Stefan klaut einen Malblock. Sogar die Supermarktleitung gibt zu verstehen, dass sie gelegentliche Diebstähle akzeptiert, da sie ja weiß, dass die Bewohner:innen fast kein Geld haben. Ich möchte nur noch weinen, wenn ich darüber nachdenke, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der selbst kapitalistisch organisierte Supermarktketten sich dazu gedrängt fühlen, mildtätig zu sein in Anbetracht dieses versagenden, zutiefst ableistischen Staats.
Stefan ist bei Weitem nicht das tragischste Schicksal des Romans. Nathalie hat Alzheimer, kommt frisch in die WG und will nichts anderes als nach Hause. Das geht nicht. Für Nathalie wird das betreute Wohnen zum Gefängnis. Schließlich ist eine Eins-zu-eins-Betreuung nicht möglich. Der:die Leser:in erfährt nicht, welches die laut Leitung „geeignetere Einrichtung“ ist, die Nathalie aufnimmt. Wir erfahren nur, dass sie in dieser nach drei Monaten stirbt.
Wer darf mitbestimmen? Wer darf erzählen?
Dank des einfühlsamen Erzählers sind wir nah an den Figuren dran, die als geistig beeinträchtigt gelten. Aus der Perspektive eines Pflegers begleitet die:der Leser:in sie bei ihren Höhen und Tiefen. Trotzdem verliert der Roman niemals aus dem Blick, dass es endlich an der Zeit sein muss, Menschen, die als geistig beeinträchtigt gelten, zu Wort kommen zu lassen. Diese Forderung ist so lächerlich gering, dass sie schon selbst ableistisch klingt. Und trotzdem zurzeit kaum denkbar. So überlegt der Erzähler treffend pointiert und angemessen-zynisch während der Corona-Pandemie: „Und trotzdem hat es Monate gedauert, bis neben den Virolog:innen und Epidemolog:innen auch mal ein Intensivpfleger mit auf der Bundeskonferenz saß und erzählte, wie es gerade aussieht auf Station. Ich frage mich, was eigentlich passieren muss, bis man Beschäftigte aus einem Heim zuhören würde oder – Gott bewahre – vielleicht sogar mal jemanden, der dort lebt.“ (S. 171)
Was letztendlich zu Stefans Aufgabe der Arbeit führt, sind die hierarchischen Strukturen der Einrichtung, die in der Corona-Situation unerträglich werden. Sinnlose Teamsitzungen werden nicht online gemacht, das Maske-Tragen vom Management belächelt. Jeder einzelne Verbesserungsvorschlag von Stefan und seinen Kolleg:innen wird ignoriert. Stattdessen werden die Einrichtungen zu noch extremeren Festungen, Tagesangebotbeschäftigungen werden geschlossen. Tatsächlich fühlt sich Stefan nicht wohl dabei, endlich seine frühen Weckzeiten zu löschen.