Von der Pandemie zum Generalstreik?

Der 110. internationale Frauenkampftag fand im Kontext der Pandemie trotz Einschränkungen statt. In Berlin bekräftigten revolutionäre Feminist:innen den Kampf um Sorge- und Pflegearbeit als höchste Priorität und schufen damit vielleicht die Voraussetzung für einen Generalstreik.

© Philippe Pernot

„Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat!“, riefen am 8. März 2021 Tausende Menschen, die dank der relativ entschärften Lage auf die Straße gehen konnten. Es war klar, dass der 110. Internationale Frauenkampftag sich dieses Jahr dem Kontext anpassen musste – und aus diesem sogar eine neue Vitalität schöpfen konnte. Zahlreiche Protestaktionen fanden in ganz Berlin statt. Höhepunkt des Tages stellte die große internationalistische FLINTA*-Demonstration dar, der sich mehr als 5.000 Personen anschlossen. Kurz davor fand die „Wir kriegen die Krise“-Kundgebung am Invalidenpark statt, die nach einem Jahr Corona-Pandemie die Lage der Pflege- und Hausarbeiter:innen in den Fokus setzte.

Ein Protest im Kontext der Krise

„Das heutige Krankenhauskonstrukt widerspiegelt patriarchische und kapitalistische Strukturen total und es hat sich seit einem Jahr wenig bis gar nichts getan: Es wurde applaudiert, aber gefühlt wurden keine richtigen Veränderungen daraus gezogen.“,

erzählen Mia und Paul, zwei auszubildende Pflegearbeiter:innen. Sie sind Teil von „Walk of Care“, einer Streikbewegung von Gesundheitsarbeiter:innen, die seit letztem September jeden Mittwoch vor dem Bundesministerium für Gesundheit Kundgebungen im Rahmen der Kampagne #gibuns5 organisieren.

Unter anderem fordern sie eine bessere Ausbildung, politische Mitbestimmung und die Abschaffung von sexistischen Strukturen in der gesundheitlichen Pflegearbeit.

„Dort wird die extreme Hierarchie gegenüber dem Arzt und der Krankenschwester bitter ausgelebt. Das sexistische Bild der Pflegeberufe verhindert die Professionalisierung der Pflege und deswegen ist es ausschlaggebend, dass die Pflegearbeiter:innen den größten Schwerpunkt auf Gleichberechtigung, auf Frauen*quoten des ganzen Gesundheitssystems stellen“,

beschreiben Mia und Paul. Tatsächlich bilden Frauen* mehr als 80 % der Alters- und Krankenpfleger:innen, darunter arbeiten zwei Drittel nur Teilzeit – weil sie daneben oft noch unbezahlte, familiäre Pflegearbeit leisten müssen. Dies führt zu einem Personalmangel und zum Pflegenotstand in vielen Krankenhäusern.

Die Sorgen der Sorgearbeiter:innen

© Philippe Pernot

Doch nicht nur die Krise der bezahlten Pflegearbeit stand während der Kundgebung im Fokus. In Deutschland leisten Frauen* 52 % mehr Haushalts- und Pflegearbeit als Männer, das sind circa eineinhalb Stunden pro Tag. Desto wichtiger und dringender die Aufgaben sind – kochen, sich um Kinder und älterer Familienmitglieder kümmern – desto mehr werden sie von Frauen* erledigt. Dieser „Care Gap“ trifft Frauen* aus niedrigeren Einkommensniveaus härter, da die Hälfte der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen* in Teilzeit arbeiten und eineinhalb Stunden mehr Hausarbeit leisten müssen als vermögendere Frauen*. Obwohl Sorgearbeit circa einen Drittel der deutschen Wirtschaft darstellt, werden dessen Arbeiter:innen entweder wenig oder gar nicht bezahlt: Sie sind Teil des Prekariats und müssen unter sexistischen Stereotypen, patriarchalen Familienstrukturen und systemischen Einkommensungleichheiten leiden.

„Während der Krise sind die Defizite des Systems der unbezahlten Sorgearbeit klar geworden. Es wurde viel darüber berichtet und geklatscht, sogar in den Mainstream-Medien, aber jetzt lässt diese Aufmerksamkeit wieder nach.“,

warnt Marie. Ihre Aktionsgruppe Feminist*Dialogues war Teil der Kampagne „Platz für Sorge“, die von diversen Organisationen im Bereich Care- und Pflegearbeit gegründet wurde. Sie errichteten auf der Esplanade des Invalidenparks kreative Kunstinstallationen, um das Leiden der Hausarbeiter:innen visuell darzustellen. An Bäumen hingen goldene Ohren aus Karton, Putzmittelflaschen und Plastikhandschuhe, zwischen ihnen wurde eine „Wäscheleine“ mit Forderungen gebunden.

Mit Slogans wie „Mehr Lohn für Care-Work“ oder „Sorge ist Arbeit“ wollen sie Aufmerksamkeit für die harten Lebensbedingungen der – vorwiegend – Frauen* schaffen, die für ihre Arbeit nicht bezahlt werden oder nur niedrige Löhne bekommen. So Marie:

„Es fehlt an politischen Maßnahmen im Arbeitsrecht. Deswegen beanspruchen wir Tarifverträge, Bezahlung für alle Sorgetätigkeiten sowie alternative Modelle für Familien- und Hausarbeit.“

Diesen Forderungen schlossen sich mehrere feministische Organisationen an, wie der Bundesverband der Migrantinnen, deren Mitglieder für die Gleichberechtigung von migrantischen und von Rassismus betroffenen Frauen* kämpfen.

Ein intersektionaler Feminismus

Sie kritisierten die verschärfte Lage der so genannten „ausländischen Haushaltshilfen“ und die Auslagerung der Care-Arbeit an Migrantinnen. Um den Pflegenotstand zu verschleiern, wurden in den letzten Jahren immer mehr überwiegend aus Osteuropa stammende Frauen* angeworben: Seit 2014 hat sich zum Beispiel die Zahl der „Ausländer:innen“ in der Alterspflege fast verdoppelt. Diese Care-Arbeiter:innen leiden dreifach: an Rassismus, Geschlechtsungleichheiten und an den prekären Arbeitsbedingungen der Pflegeberufe. Darüber hinaus sind sie Teil der globalen Betreuungskette, die sich zwischen Peripherie- und Industrieländern spannt und die weltwirtschaftlichen und postkolonialen Ungleichheiten widerspiegelt.

© Philippe Pernot

„Der Fokus der heutigen Kundgebung ist intersektional: Wir sehen im Kapitalismus verschiedene Unterdrückungsformen, die miteinander verwoben sind. Deswegen kämpfen wir für gute Arbeitsbedingungen und ein gesundes Leben unabhängig von Herkunft, Klasse oder Geschlecht.“,

erklärt Jule, Pressesprecherin des Frauen*Streik-Komitee Wedding. Mit den Schwesterorganisationen im Dachverband des Frauen*streiks Berlin verteidigen sie einen revolutionären Feminismus, weit entfernt der kommerziellen und parteipolitischen Kommunikation, die am 8. März Gang und Gebe ist. So hatten sich mehrere internationalistisch-sozialistische, revolutionäre und antifaschistische Strukturen der Kundgebung angeschlossen, wie Brot und Rosen (der „Klasse gegen Klasse“), die Migrantifa und Rosa International (der International Socialist Alternative). Zusammen forderten sie einstimmig den Abbau des patriarchalen, kapitalistischen Staates.

Der Frauenstreik als Horizont

Als Beispiel fundiert der Generalstreik in Mexiko am 9. März 2020, als sich 22 Millionen Frauen* weigerten, die Arbeit aufzunehmen – ob bezahlt oder unbezahlt. Die mexikanische Wirtschaft brach an dem Tag um mehr als 50 % zusammen.

„Das zeigt, dass wir als Frauen* ganz viel Macht haben, wir haben einen Hebel, wo wir drücken können. Deswegen sind wir auch fokussiert auf den Streik als politisches Druckmittel.“,

schildert Jule. Dieses Jahr sei es pandemiebedingt und mangels Mobilisierungsmöglichkeiten kaum denkbar einen massiven Streik hervorzurufen – vor allem im Care-Bereich, der wenig politisiert und organisiert ist. Auch in der Pflegearbeit sei es schwierig,

„da wir natürlich das Problem haben, dass viele in kirchlichen Trägern sind und da noch mehr abgeschreckt sind zu demonstrieren.“,

analysieren Paul und Mia der Walk of Care.

Ein gemeinsames Wir

Doch zeigte die Mobilisierung zum 8. März 2021 in ihren Augen, dass ein Streik kaum auszuschließen sei:

© Philippe Pernot

„Die Frustration ist auf jeden Fall nochmal gestiegen, die Unzufriedenheit auch und ich kann mir vorstellen, dass es einen Nährboden gibt, dass noch mehr Leute ihre Frustration und ihrer Ungerechtigkeit Raum geben wollen.“

Auch Jule des Frauen*streiks Berlin glaubt, dieser Frauenkampftag zeige eine breite Bereitschaft, sich nach einem Jahr des Lockdowns und der Pandemie wieder zu organisieren. Im nächsten Jahr werde ein Generalstreik geplant.

„Die aktuelle Situation kann wie ein Katalysator wirken. Es ist jetzt unsere Aufgabe als gesellschaftliche Linke das sichtbar zu machen, damit wir die patriarchale und kapitalistische Unterdrückung überwinden können!“

Tatsächlich könnte die „Wir kriegen die Krise“-Kundgebung eine Inspirationsquelle für spätere Proteste werden. Kämpfe, die bisher wenig vernetzt waren, flossen am 8. März 2021 zusammen: Antikapitalist:innen, Feminist:innen, Pflegearbeiter:innen und Migrant:innen strebten den Generalstreik an.

„Dafür müssen wir es natürlich schaffen, so ein gemeinsames Wir zu kreieren und in unserer Unterschiedlichkeit zusammenzukommen, um uns gegen die Unterdrückungen in diesem Herrschaftsverhältnis aufzulehnen.“,

beteuert Jule.

Dieser Weltfrauenkampftag zeigte, dass unbezahlte Pflegearbeiter:innen als Teil der Arbeiterbewegung betrachtet werden und dass von Rassismus betroffene Frauen* unter dem Dach der deutschen feministischen Bewegung einen Platz gefunden haben. Ob es sich um ein gemeinsames Wir handelte, ist noch nicht ersichtlich. Aber vielleicht haben die Aktionen, die am 8. März 2021 stattfanden, die Rahmenbedingungen für den erhofften Generalstreik geschaffen.

Beitragsbild: © Philippe Pernot

Dieser Artikel ist Teil der Verteilzeitung zum 1. Mai 2021.

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