Die Nr. 206 (Juli/August 2011) der DA war historischen, politischen und ökonomischen Analysen des Sports gewidmet. Mehrere Artikel bezogen sich dabei unter anderem auf den Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB), der von 1924 bis 1933 eine auch international wichtige Rolle in der Organisierung des Arbeitersports darstellte.
Von besonderer Bedeutung war nicht zuletzt die Fußballabteilung, die insgesamt 73 mal eine deutsche Arbeiterauswahl aufs Feld schickte. Die Geschichte dieser Spiele wurde nun von Rolf Frommhagen in einem Band des bewährten Fußballverlags Die Werkstatt unter dem Titel Die andere Fußball-Nationalmannschaft. Bundesauswahl der deutschen Arbeitersportler 1924-1932 umfassend dokumentiert. Der Inhalt des Buches ist eine anregende Mischung aus Arbeitersportgeschichte, akribisch zusammengetragener Statistik und vergnüglichem Sportjournalismus: „Eine Steilvorlage erreicht Aschenbrenner, der die überraschten russischen Verteidiger düpiert, den Torwart überwindet und die Zuschauer jubeln lässt“ (S. 60).
Die statistischen Angaben verraten nicht nur Aufstellungen, Zuschauerzahlen, Schiedsrichter, Torfolge und Trikotfarben, sondern auch eine Reihe von Details, die einen beispielsweise wundern lassen, wie die deutsche Auswahl am 4. August 1929 in Bremen ein Spiel gegen England trotz eines Eckenverhältnisses von 7:0 mit 0:4 verlieren konnte. Interessant auch der Vermerk, dass bei Arbeiterspielen des Öfteren Torrichter eingesetzt wurden – über achtzig Jahre vor dem entsprechenden FIFA-Beschluss. Abgerundet werden die Eindrücke der deutschen Arbeiterauswahl von anschaulichen Reiseberichten, wonach Zugfahrten der 3. Klasse und Geselligkeit auf schaukelnden Fähren oder auch ein finnischer Saunabesuch genauso aufregend waren wie ein Torerfolg in Kotka oder Turku.
Eine andere Fußballkultur ist möglich
Faszinierend sind die Werte, unter denen der Arbeiterfußball betrieben wurde. Sie lesen sich wie auf weiser Vorausschau basierende Versuche, die negativen Aspekte moderner Fußballkultur zu unterbinden. Unehrliches Spiel und übertriebener Siegeswille waren genauso verpönt wie die Erniedrigung des Gegners oder Starkult. Was letzteren betrifft, so wurden anfangs gar Spielerlisten unterschlagen, um nicht unnötige Aufmerksamkeit auf Einzelkönner zu lenken. Elfmeter wurden bei hoher Überlegenheit absichtlich verschossen, Torleute durch besonderes Regelwerk vor gefährlichen Attacken geschützt und Mannschaftsfotos vor dem Spiel oft in demonstrativer Einigkeit mit dem Gegner geknipst. Natürlich war nicht alles rosig in der Welt des Arbeiterfußballs. Ideologische Gegensätze führten zu Konflikten, so dass es beispielsweise zu kommunistischen Abspaltungen vom immer stärker sozialdemokratisch dominierten ATSB kam. Auch konnten eine Reihe der talentiertesten Spieler den verlockenden Angeboten bürgerlicher Vereine nicht widerstehen, beispielsweise Erwin Seeler, der Vater von Uwe, der nach Jahren beim SC Lorbeer 1906 bei Victoria 1893 Hamburg und später beim HSV landete. Individuell kann den Spielern freilich kein Vorwurf gemacht werden. Nur sehr überzeugte Sozialisten konnten sich einem zusätzlichen Verdienst und der Anerkennung des DFB auf Dauer verweigern. Dass es solche Spieler gab, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass einige von ihnen, wie der Hamburger August Postler oder die Dresdner Georg Lindner und Alfred Krug, nach der Machtübernahme der Nazis in den Reihen von Widerstandsgruppen landeten und von den neuen Machthabern eingesperrt oder ermordet wurden.
Der chronologische Aufbau des Buches ist gelungen und schafft ein besonderes Spannungsmoment – schließlich will das nächste Resultat so bald wie möglich in Erfahrung gebracht werden. Besonders die Rivalität zwischen Deutschland und Österreich hat es in sich. Die zwei Länder stellten die erfolgreichsten Arbeiterauswahlen. Die Freude darüber, dass Österreich die Gesamtbilanz am Ende klar für sich entscheidet (9 Siege bei 3 Unentschieden und 3 Niederlagen), sollte uns AlpenrepublikanerInnen bei allem Antinationalismus gegönnt werden – schließlich gibt es wenig, worüber es sich in Österreich freuen lässt. Die politischen Deutungen am Ende des Buches müssen nicht von allen geteilt werden. So darf die These, dass die Tradition des Arbeiterfußballs nach dem Zweiten Weltkrieg im nunmehr geeinten DFB weiterlebte, ebenso in Zweifel gezogen werden wie die Schlussfolgerung, dass das „Experiment des gesellschaftlichen Klassensports […] gescheitert“ sei (S. 219). In jedem Fall historisieren beide Thesen den Arbeiterfußball, während die Aufgabe wohl darin besteht, ihn wiederzubeleben. Dass es dafür konkrete Ansätze gibt, belegt der Artikel zum Arbeitersportverein Mannheim in der eingangs erwähnten DA-Nr. 206. Den Wert des Buches schmälern diese Fragen jedoch keineswegs. Ungeachtet eventueller politischer Vorbehalte werden alle an dem Werk gefallen finden, die sich für Fußball genauso begeistern können wie für die Arbeiterbewegung.
Frommhagen, Rolf: Die andere Fußball-Nationalmannschaft. Bundesauswahl der deutschen Arbeitersportler 1924-1932 Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2011. 272 Seiten, ISBN-13: 978-3895338076, 29,90 Euro.