In der Bundesrepublik arbeiten in der Kultur- und Kreativbranche inzwischen mehr Menschen als in der Automobilindustrie. Von diesen sogenannten Kreativen haben nur wenige eine feste Stelle, viele schlagen sich als Selbstständige bzw. Freelancer durch und hangeln sich von der Mitarbeit an einem Projekt zum nächsten. Für die Unternehmen in dieser Branche ist das überaus vorteilhaft: Während Normalangestellte von ihnen erstens nicht immer und zu jedem Zeitpunkt benötigt werden und zweitens immer wieder für viel Geld weitergebildet werden müssen, können solche finanziellen Belastungen und Risiken bei freien MitarbeiterInnen einfach auf diese abgewälzt werden.
Ein zusätzlicher Vorteil für Unternehmen besteht darin, dass ProjektarbeiterInnen kaum darauf kommen oder die Gelegenheit dazu haben, sich gewerkschaftlich zu organisieren, etwa um Verbesserungen beim Lohn oder den Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Das fängt bereits bei dem Bewusstsein der „Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft“ an, als die sich viele Freelancer verstehen. Statt ihre gemeinsame großenteils prekäre Lage einzusehen und dagegen gemeinsam etwas zu unternehmen, unterbieten sie sich als Konkurrenten gegenseitig, etwa bei Honoraren und der Entlohnung für Projektstellen und können oftmals auch gar nicht anders, um zu überleben.
Entgrenzte Arbeit
Während sich in der aufkommenden Industriegesellschaft ein in den jeweiligen Branchen mehr oder weniger homogenes Proletariat gebildet hatte, für das die traditione
llen Gewerkschaften immerhin gewisse Verbesserungen der Lebenssituation erkämpfen konnten, kommt es in der entstehenden Wissensgesellschaft zu einer erneuten Isolierung der Arbeitenden voneinander. Wenn man so will, könnte man von der Entstehung des virtuellen Landes sprechen, das die neuen WissensarbeiterInnen von nun an beackern; unabhängig davon, ob sie in der Stadt oder auf dem Land wohnen. Um im Bild zu bleiben: Auch wenn man es ihm nicht auf den ersten Blick ansieht, ähnelt der moderne Kreativarbeiter, der mit seinem Notebook in einem Coworking-Space sitzt, seiner Arbeitsrealität nach dem Bauern, der seine eigene kleine Scholle bewirtschaftet. Nur dass Letzterer die Scholle vom Fürsten zugeteilt bekam, Ersterer vom Auftraggeber (oder eben auch nicht).
Diese schöne neue alte Arbeitswelt der Kreativen von heute gilt auch als Indikator für gesellschaftliche Arbeitsprozesse von morgen überhaupt. Flexible Arbeitsmodelle werden auch in anderen Branchen zunehmend ausprobiert und eingeführt. So plant der IT-Riese IBM ein sogenanntes Liquid-Modell, bei dem über eine kleine Kernbelegschaft hinausgehend alle weitergehenden Arbeitsschritte von ProjektarbeiterInnen übernommen werden sollen. Für diese Projekte muss sich dann einzeln beworben werden. (Siehe dazu „Taylorismus 3.0“, DA Nr. 211.) Der Stress bei der Arbeitssuche wird so zum kontinuierlichen Druck gesteigert, sich ständig um neue Aufträge bemühen zu müssen. Die vermeintlich selbstbestimmte Arbeitszeit und das Private verschwimmen gerade bei diesen Arbeitskräften zunehmend.
Die Guten ins Töpfchen…
Bei all dem, was sich in Sachen „selbstbestimmter“ Arbeitszeit anbahnt oder bereits existiert, gibt es auch Ausnahmen. Der wesentliche Unterschied zur prekären Freelance-Kreativwirtschaft ist, dass ein flexibler und gleichzeitig grundsätzlich sicherer Arbeitsplatz als Motivation für die Angestellten beiträgt. Mit so genannten weichen Faktoren – wie Dienstwagen und anderen Bonbons – soll die Stelle attraktiv gemacht werden. Hier sollen die neuen Modelle der Arbeitszeitgestaltung die Zufriedenheit und damit Bindung von Fachkräften an das Unternehmen erhöhen. Eine Studie der Unternehmensberatung Watson Wyatt Heissmann stellte im Jahr 2008 fest, dass es den meisten Arbeitenden wichtiger ist, Privates und Berufliches besser in Einklang zu bringen, als materielle oder finanzielle Zuwendungen zu erhalten.
Dieser Erkenntnis folgt man etwa im baden-württembergischen Ditzingen bei der Firma Trumpf: bei dem im Bereich Werkzeugmaschinen weltmarktführenden Unternehmen mit weltweit 8.500 MitarbeiterInnen hat ein Soziologe als Arbeitsdirektor das Arbeitszeitmodell neu gestaltet. In dem Unternehmen gilt eine Basisarbeitszeit von 35 Stunden, die flexibel auf 40 Stunden die Woche erhöht und auf bis zu 15 Stunden gesenkt werden kann. Solche Modelle bieten gerade für junge Menschen, die Arbeit den individuellen Bedürfnissen anpassen möchte, eine hohe Attraktivität. Bei Trumpf gibt es ein Freizeitkonto sowie eine großzügige betriebliche Altersvorsorge. Die dadurch nach eigenen Angaben um 50 Prozent gestiegene Zahl der Bewerbungen scheint Trumpf einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil zu gewähren.
Allerdings ist Trumpf ein sehr erfolgreiches Unternehmen, der Standort in Ditzingen sein Hauptsitz. In der Region liegt die Erwerbslosequote bei gerade mal vier Prozent, und große Unternehmen wie Bosch, Porsche oder Mercedes produzieren direkt um die Ecke. Es geht bei Trumpf daher letztlich darum, hoch qualifizierte Fachkräfte an- und abzuwerben und zu halten, die auch jederzeit zur Konkurrenz gehen könnten. Auch andere Unternehmen diskutieren über solche Modelle als Teil ihrer Unternehmensstrategie, da sie aufgrund des vorhandenen Fachkräftemangels dazu gezwungen sind, um diese Wenigen zu werben und diese an sie zu binden. Die langfristige Bindung von Fachkräften an den Arbeitsplatz ist letztlich erfolgversprechender, wenn sie ihr Leben nicht nach der Arbeit, sondern die Arbeitszeit mehr oder weniger nach ihren wechselnden Lebensbedürfnissen ausrichten können.
Bought me a brand new Teilzeit-Paket
Ganz toll findet man flexible Arbeitszeitgestaltung auch auf höchster staatlicher Ebene, beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). Das von Ursula von der Leyen (CDU) geführte Ministerium gibt Unternehmern auf seiner Homepage gleich sieben verschiedene Teilzeitmodelle als „Vorschläge in die Hand, ihr Unternehmen nicht nur effizient und kundenfreundlich zu führen, sondern auch eine hohe Motivation der Mitarbeiter zu gewährleisten“. Die Modelle tragen die ebenso illustren wie warenförmigen Bezeichnungen „Teilzeit Classic“, „Teilzeit Vario Classic“ oder „Teilzeit Home“.
Beim Modell „Teilzeit Saison“ geht es dem BMAS darum, „zum Ausgleich von Über- bzw. Unterauslastung in Saisonbetrieben“ in arbeitsreichen Phasen Vollzeitbeschäftigte bereitzustellen, die dann bei niedriger Auslastung wiederum „frei“ haben. Es ist sehr gut ersichtlich, an wen sich dieses wie auch alle anderen Angebote in erster Linie richten: an die Unternehmen, für die auf diese Weise „die kostenintensive Suche und Einarbeitung neuer Mitarbeiter für die nächste Hochsaison“ entfällt. Auf geradezu perfide Weise wird die „außerhalb der Saison ganze Monate“ betragende Erwerbslosigkeit vom BMAS als „Freizeitgewinn“ deklariert.
Auch der eingangs angesprochenen Entsolidarisierung unter den Beschäftigten wird durch die Vorschläge des Ministeriums Vorschub geleistet: So soll nach dem Modell „Teilzeit Team“ vom Unternehmer vorgegeben werden, „wie viele Mitarbeiter in bestimmten Zeitabschnitten anwesend sein müssen. Im Team wird dann die jeweilige persönliche Arbeitszeit geplant und abgesprochen.“ Eine Aufgabe der Unternehmensleitung wird so an die Beschäftigten selbst delegiert – das Herrschaftsverhältnis zwischen Chef und Angestellten nicht aufgehoben, sondern verschleiert.
Investieren in den Job
Die weiteren Vorschläge des Ministeriums heißen „Teilzeit Invest“ und „Teilzeit Jobsharing“. Erstere ist „unsichtbare Teilzeitarbeit. Gearbeitet wird Vollzeit – bezahlt wird Teilzeit“, bei der dann „Zeit- oder Geldguthaben auf einem Langzeitkonto angespart werden“, um irgendwann in Zukunft einmal bereits vorfinanzierte „mehrmonatige Urlaubsphasen“ oder „Sabbaticals“ machen zu können oder gleich in den „Vorruhestand“ (mit 66 statt 67?) zu gehen. Beim „Teilzeit Jobsharing“ schließlich sollen sich zwei Arbeitende eigenverantwortlich eine einzige Stelle teilen. Man kann sich schon denken, was daran für die Unternehmen besonders praktisch sein dürfte: Wenn einer mal krank wird, dann kann schließlich immer noch der andere arbeiten.
Beruhigend dabei ist, dass das BMAS auf seiner Homepage unter den FAQs zu den neuen Arbeitszeitmodellen die wirklich brennende Frage aufwirft, ob denn „Arbeitgeber durch die Teilzeitregelung belastet“ werden würden: Nein, lernen wir, denn „flexible Arbeitszeiten sind wirtschaftlich, wie Beispiele von Unternehmen in Deutschland und Europa beweisen. Wer weniger arbeitet oder seine Arbeitszeit verteilt, ist produktiver, effizienter und motivierter. Für Unternehmen bedeutet das höhere Produktivität, geringere Fehlzeiten und geringere Fluktuation.“
Die Frage, was die sogenannte Flexibilisierung für die produktiver und effizienter gemachten Beschäftigten bedeutet und welche negativen Konsequenzen sich aus ihr für sie ergeben, wird beim BMAS nicht aufgeworfen. Im Gegenteil wird stets suggeriert, dass es sich bei den Teilzeitmodellen insgesamt um eine Verbesserung ihrer Situation handele. Dass sich eine auf solche Weisen gestaltete flexible Arbeitszeitgestaltung im Großen und Ganzen zu Ungunsten der Wirtschaft auswirken könnte, wird von vorneherein ausgeschlossen; dass sie sich insgesamt zu Gunsten der Beschäftigten auswirken könnten, ist damit auch auszuschließen.
Das Privileg und sein Gegenteil
Während bei Freelancern die flexible Dauerverfügbarkeit und der kontinuierliche Stress durch Jobs auf Abruf charakteristisch sind, ist etwa bei Trumpf die Veränderung vormals klassischer Arbeitszeitorganisation mit der neueren Komponente der Einbindung der Bedürfnisse des Arbeitnehmers tatsächlich gegeben. Es gibt dort ein Stück Arbeitszeitautonomie – wenigstens für die, die es (noch) wert sind. Bei anderen Arbeitenden, insbesondere bei Hilfskräften, Ungelernten und anderen prekär Beschäftigten ist eine solche Arbeitszeiteinteilung dagegen nicht im Kommen.
Hier gilt das genaue Gegenteil: Auf der ständigen Suche nach neuen Beschäftigungen können sie sich überhaupt nicht mehr aussuchen, wann und wo sie (nicht) arbeiten. Der Wert, der der Arbeit zugeschrieben wird, könnte möglicherweise zukünftig nicht mehr nur über den Lohn, sondern ebenso in der Option, seine Arbeitzeit selbst bestimmen zu können, zum Ausdruck kommen. Allerdings ist auch bei den positiven Beispielen letztlich nur der Wettbewerb um die wenigen besten Fachkräfte ausschlaggebend. Sollte der Fachkräftemängel in der Region eines Tages vorbei sein, wird es wohl auch mit dem Privileg der selbstbestimmten Zeiteinteilung bei den Angestellten zu Ende gehen.