Wirtschaftskrisen betrachtet man heute, „wie man in vergangenen Jahrhunderten Pestilenzen, Hungersnöte und Mongolenüberfalle betrachtete“, schrieb einst B. Traven. Und weil solche Katastrophenszenarien das Maß des Menschlichen übersteigen, wirken sie für viele irreal, wie eine absurde Episode, die schnell vergehen werde. So urteilte zumindest Albert Camus über derartige Heimsuchungen, denen die Menschen stets unvorbereitet gegenüber stünden, zu übermenschlich scheinen die dahinter liegenden Kräfte. Viele dieser Prozesse sind tatsächlich sinnlich kaum zu fassen. Wenn in wenigen Tagen mehrere Billionen Dollar Börsenwert vernichtet werden und in Simbabwe die Inflationsrate auf über 500 Milliarden Prozent steigt – was mag das anderes bewirken als ein großes Staunen. Selbst das Wörtchen „Staatsbankrott“ ist nichts als eine abstrakte Vorstellung. Für alle greifbar dagegen sind die ganz konkreten etwaigen Folgen einer Krise: wenn das Geld in der Hand zerrinnt, Produktion und Konsum zusammenbrechen, Einkommensquellen versiegen und Nahrungsmittel zur Rarität werden. Das Schreckgespenst der Wirtschaftskrise von 1929ff ist allen bekannt. Sicher, hier in der Metropole bekommen wir das diesmal noch nicht so recht zu spüren. In der Peripherie ist das schon ganz real. Man denke nur an die Hungerspirale, die zu Beginn der jetzigen Krise mit den Folgen der Immobilienpleite drastisch angeheizt wurde.
Kleinlaut, aber nicht schlauer
Krisen kommen und gehen, lautete lange der allgemeine Tenor. Sie seien kein Grund zur Panik, das heutige System sei schließlich sicher gegen solche Auswirkung wie anno 1929. Dieser Mythos scheint jetzt auch unter den neoliberalen Papageien ein stückweit gebrochen angesichts der sich entfaltenden Megakrise. Und plötzlich werden andere Töne angestimmt: vom „Scheitern des Neoliberalismus“ ist jetzt vielerorts die Rede; der Keynesianismus erlebt ein unerwartetes Revival. Es darf wieder verstaatlicht und nach Regulation geschrieen werden. Ohne Frage, eine Ideologie beginnt zu bröckeln. Und plötzlich will es keiner gewesen sein, der ohne Unterlass die heiligen Suren des Neoliberalismus gepredigt hat. Selbst die FDP klagt an: Wo war der Staat, der hier hätte frühzeitig intervenieren sollen? Allenfalls ein Friedrich Merz will noch immer „mehr Kapitalismus wagen“, während manch extremer Turbokapitalist die Ursachen der Krise darin sieht, dass staatliche Regulation noch immer die göttliche Kraft der „unsichtbaren Hand“ verzerren würde. Dummheit ist eben beharrlich.
Der „Spiegel“ fordert nun, den Kapitalismus zu „zivilisieren“, PolitikerInnen verlangen nach einem sozial verantwortlichen Unternehmerethos. Transparenz soll hergestellt und die Manager in ihren Gehältern beschnitten werden, hat man doch „die Gier“ als Grund des Desasters ausgemacht. Was sie jetzt nicht mehr wissen wollen, ist, dass die zuvor von ihnen gepredigte Doktrin eben jene Gier, den niederen Trieb des Profitinteresses, zu einem gesellschaftlichen Generalprinzip erklärte, mit dem allgemeiner Wohlstand geschaffen würde. Als sozial verantwortlich galt jede unternehmerische Handlung. Banaler konnte man den berüchtigten kategorischen Imperativ nicht herleiten. Es sagt alles über das Geistesniveau unserer PolitikerInnen und Wirtschaftsgurus aus, wenn sie nun auch noch in der Schaffung von Transparenz und Gehälterbeschneidungen eine mächtige Keule gegen die zuvor gefeierten Triebkräfte des Kapitals sehen. Insofern mögen sie zwar kleinlaut geworden sein, an der grundsätzlichen Verflachung hat sich aber nichts geändert.
Bei allen kleineren Krisen in den letzten Jahren gab es ähnliche Einsichten und Maßnahmen. Mit dem Ergebnis, dass sie – bestenfalls – nichts bewirkten oder – schlimmstenfalls – die nächste Krise vorbereiteten. Als 1998 die Hedge-Fonds-Krise die Wirtschaft erschüttert hatte, führten die Transparenzmaßnahmen nicht im Geringsten zu einer Eindämmung von Risikogeschäften. Im Gegenteil, heute gehören sie zum Tagesprogramm jedes größeren Finanzinstituts. Oder man denke an die geplatzte Internetblase 2000. Damals stellte sich heraus, dass Finanzanalysten Papiere empfahlen, die sie selbst intern als wertlose Nieten einschätzten. Sie tun dies, weil sie selbst für Geschäftsbänker arbeiten, die an der Finanzierung solcher Operationen verdienen. Da helfen kein Ethos und keine Gehaltsgrenzen. Handfeste Interessen bestimmen die Bewegungen des Kapitals.
Banalität des Kapitalismus
Die Hunderten von Milliarden, die nun als staatliche Rettungspakete für das Finanzsystem geschnürt werden, sind keineswegs ein Ausdruck an neu gewonnener Reife. Es ist die einzige Maßnahme, die Wirtschaft und Politik im Rahmen ihres verengten und immer noch gleichen Weltbildes einfällt. Schließlich wird diese dreiste Umverteilung von unten nach oben noch immer damit begründet, dass die Stabilisierung des Finanzwesens im allgemeinen Interesse sei. Es ist und bleibt dieselbe Logik, nach der das Wohl der Unternehmen unser aller Schicksal sei.
Noch immer hören wir die gleichen Experten in den Medien, die ratlos und unbeholfen ihre wirtschaftswissenschaftlichen Phrasen runterspulen. Die neoliberale Theorie offenbart ihre Einfältigkeit und Naivität. Man denke nur an den verzweifelten japanischen Regierungssprecher, der sich vor die Presse stellte und verlautbarte, die Regierung könne sich die Bewegungen an der Börse einfach nicht erklären. Das passe irgendwie nicht mit dem realen Zustand ihrer Wirtschaft zusammen. Dabei muss man kein großer Ökonom sein, um zu wissen, welche Macht im Kapitalismus die Fiktion über unsere Realität hat. B. Traven brachte dies bereits 1929 auf den Punkt: „Hinter all diesem Wirrwarr sitzt nichts anderes als die gestörte Einbildung … Es ist ebensoviel Kohle auf Erden wie vorher. Die Eisenbahnen und Schiffe sind alle noch unversehrt. Und Hunderttausende sind willig, zu arbeiten und zu produzieren. Kein Ingenieur hat die Fähigkeit verloren, neue Maschinen zu konstruieren. Das Getreide steht auf den Feldern und reift wie immer. Nichts hat sich am irdischen Reichtum geändert. Nur darum, weil sich der Besitz einzelner zu verändern droht, bricht eine Katastrophe herein.“
Diese Massensuggestion funktioniert heute noch wie damals. Kein Wunder, dass Wirtschaftsexperten nun ständig vom „gestörten Vertrauen“ reden, der „Spiegel“ neunmalklug über „die Angst vor der Angst“ philosophiert und die Medien den Ball mit Krisen-News flach halten, um Panik zu vermeiden. Und auch das verlangt keine großen analytischen Kenntnisse. Jede Blase basiert auf primitiver Suggestion: Gleich einem Herdentrieb entsteht ein Zwang, an der Blase mitzumachen. Die Unternehmer versuchen mit allen Mitteln, künstlich den Wert der Firma für Aktionäre zu maximieren. Der Anleger, der nicht mitmacht, dem könnten satte Gewinne entgehen. Erst reden die Unternehmer vom Hype, dann die Medien und irgendwann alle. Bis sich der Hausmeister von nebenan über Aktieninvestitionen Gedanken macht. Dann kommt der Crash, die Panik, der Sog … wir kennen die Folgen zu genüge. Es spricht für die Primitivität dieses Wirtschaftssystems, dass solch eine esoterische Kategorie wie „Vertrauen“ so zentral für seine Funktionsfähigkeit ist.
Krise und Klassenkampf
Es mag für einige verlockend sein, einen Zusammenbruch des Marktes herbeizusehnen. Doch es gibt nichts daran zu jubilieren, wie es manche Krisentheoretiker tun, die nun innerlich frohlocken, weil sie in kapitalistischen Krisen das Morgenrot sehen. Jedwede emanzipatorische Praxis muss der konkreten Verelendung entgegensteuern und nicht im Mantel der Theorie einen Vorteil in ihr suchen. Insofern – und das führt uns zum Anfangsgedanken zurück – erweist sich auch das abstrakte analytische Wissen über solche ökonomischen Abläufe für die Beseitigung des Kapitalismus weitestgehend als irrelevant. Sicherlich, manch linker Politiker wird sich mit seinem profunden ökonomischen Wissen Glaubwürdigkeit verschaffen können, und manche Linke sich in ihrer Kapitalismuskritik bestätigt sehen. Massen aber schreiten nicht zur Tat, weil sie die Gesetze des Kapitals studiert haben, sondern weil sie deren Wirkungen zu spüren bekommen.
Es ist ein Gemeinplatz, dass der Kapitalismus die Widersprüche hervorbringt, die zu seiner Beseitigung führen (können). Die Frage ist nur, ob man dabei das Abstrakte oder das Konkrete im Blick hat. Weder wird sich der Kapitalismus ganz von selbst – quasi durch die unsichtbare Hand der Geschichte – zum Sozialismus transformieren, noch wird die Politik marxistische Ökonomen für ihr weises Wissen als Erretter feiern und entsprechend die Gesellschaft umgestalten. Es sind allein die aus den Widersprüchen entspringenden Klassenkämpfe, die die Veränderung herbeiführen können. Auf diesem Feld fällt die Entscheidung, dort wird gesät und geerntet. Ob stabiler oder instabiler Kapitalismus – es ist an uns, diese Kämpfe Tag um Tag zu führen, um so gut wie möglich aufgestellt zu sein. Denn nichts geschieht automatisch. Dort, wo es zum Krach kommt, können freigesetzte Potentiale sich auch gefährlich entwickeln. Eine Krise ohne eine vitale und bewusste Arbeiterbewegung ist eher eine Chance für die Reaktion als für den Fortschritt. Eine Bewegung, die das ignoriert, wird von den Ereignissen überrollt und muss mit ansehen, wie die Geschichte einen dunklen Weg nimmt.