In vielen anderen Regionen längst Tradition, wagten anarchistische Kulturschaffende aus dem Spektrum der Libertären Aktion Winterthur (LAW) mit der ersten Veranstaltung dieser Art im deutschsprachigen Raum einen Sprung ins kalte Wasser.
Seit 2005 finden im beschaulichen Winterthur im Nordosten der Schweiz jeden Februar die „Anarchietage“1
statt, eine Veranstaltungsreihe mit allabendlichen Lesungen, Referaten und Diskussionen rund ums Thema Anarchismus und Herrschaftsfreiheit. Während der thematische Fokus bis heute erhalten blieb – der Name ist selbstverständlich Programm –, änderte sich sowohl die Länge des Anlasses als auch die Zusammensetzung des Publikums. Während die ersten Anarchietage mit acht Veranstaltungen noch zum größten Teil von Interessierten aus der Stadt und dem Umland in Augenschein genommen wurden, war die vierte Ausgabe 2008 fast doppelt so lang und die Herkunft der Besucherinnen und Besucher deutlich internationaler.
Den Aktivistinnen und Aktivisten der Libertären Aktion Winterthur2 – kurz LAW – war es nach den Erfahrungen im letzten Jahr klar, dass etwas am Konzept der Anarchietage geändert werden musste. Denn einerseits waren zwei Wochen für die meisten Organisatorinnen und Organisatoren, aber auch vielen interessierten Menschen deutlich zu lang, andererseits sollte der Anlass aber auch weiterhin für Leute interessant bleiben, die von weiter her zu den Anarchietagen reisen würden. Dass gerade in einer zweitägigen „Libertären Buchmesse“ die Lösung gefunden wurde, war kein Zufall. Obwohl dies für den deutschsprachigen Raum praktisch ein Novum war, wurden in vielen anderen Länder damit in den letzten Jahren gute Erfahrungen gemacht.
Erfolgsgeschichten
Die erste anarchistische Buchmesse in neuerer Zeit wurde 1983 in London durchgeführt, und zwar in einem „vom Unglück verfolgten Autonomen Zentrum in Wapping. An dem Tag, der sich als der Kälteste im ganzen Jahr herausstellen sollte, versammelten sich ein halbes Dutzend anarchistische Verlage und legten ihre Waren aus. Als sich kaum eine Besucherin oder ein Besucher blicken ließ, wurde der Anlass abgebrochen und ein Pool-Turnier veranstaltet. Es war eine tolle Sache und alle sagten: ‘Macht’s nächstes Jahr wieder!’ – was wir taten.“3 Das Original, kurz und bündig „Anarchist Bookfair“ genannt, besteht noch heute und wird dieses Jahr zum 28. Mal stattfinden. Glaubt man den Veranstalterinnen und Veranstaltern, wird die eintägige Messe alljährlich von bis zu 3000 Menschen besucht. Auf der Website sind über 100 Kollektive, Organisationen, Verlage und Vertriebe aufgeführt, die an der Anarchist Bookfair einen Stand betreiben.
Seit Mitte der 90er Jahre erlebten die libertären Buchmessen ihren eigentlichen Boom. Angefangen mit der „Bay Area Anarchist Book Fair“ in San Francisco, die im kommenden Mai zum 14. Mal durchgeführt wird, konnten sich schon bald ähnliche Anlässe in allen Teilen der Vereinigten Staaten und Kanadas etablieren. Nach dem Millenium wurden anarchistische Buchmessen auch auf dem europäischen Kontinent populär. 2002 öffnete zum ersten Mal der „Salon du livre libertaire“ in Paris seine Tore, ein Jahr später folgten unter anderen das „Encuentro del libro anarquista“ in Madrid und die „Balkan Anarchist Bookfair“ in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana. Bis und mit 2008 fanden weltweit in rund drei Dutzend Städten und mehr als zehn Ländern anarchistische Buchmessen statt.4 Die Motivation zur Organisierung eines solchen Anlasses dürfte in den meisten Fällen so ähnlich gewesen sein wie bei der „Librairie Publico“ in Paris, die den „Salon“ auf die Beine stellte:
„Seit Anfang der 90er Jahren haben Dutzende von libertären Kleinverlagen das Licht der Welt erblickt. Diese Kollektive, welche meistens keine Löhne bezahlen können, bieten heute ein Programm an, das von Broschüren bis zu Werken mit mehreren hundert Seiten reicht. Die Schwierigkeit für diese Verlage, deren Publikationen kaum je von einem großen Distributor übernommen werden, ist, überhaupt an potentielle Leserinnen und Leser heranzukommen. Zu diesem Zweck hat unser Buchladen die Initiative zur Organisierung einer libertären Buchmesse ergriffen.“5
Ein Experiment
Tatsächlich wurden und werden libertäre Buchmessen oft von Bibliotheken oder Buchläden vor Ort initiiert. Dies war in Winterthur nicht der Fall – trotz einer gewissen radikalen publizistischen Tradition, die in den 1840er Jahren mit dem linksoppositionellen „Literarischen Comptoir“ begann, allerdings mit dessen Niedergang noch im gleichen Jahrzehnt auch schon wieder verschwand. Zudem ist die Deutschschweiz nicht gerade bekannt dafür, Hort einer regen libertären Publikationstätigkeit zu sein. Das Gelingen der Buchmesse hing also einerseits vom Aufspüren einer geeigneten Lokalität ab, die nicht nur für hartgesottene SzenegängerInnen attraktiv sein würde, sondern auch ein breiteres Publikum anlocken konnte, anderseits von der Teilnahme der anarchistischen Verlage aus Deutschland und der libertären Kulturzentren aus der Romandie und dem Tessin.
Ein passender Ort wurde glücklicherweise schnell gefunden: Die „Alte Kaserne“ ist nicht nur eine der bekanntesten kulturellen Institutionen in Winterthur, sondern auch mitten in der Stadt gelegen und mit der notwendigen flexiblen Infrastruktur ausgestattet. Zudem werden die Räume von der Stadt subventioniert, was der LAW prompt den Vorwurf einbrachte, sie unterstütze mit der Buchmesse und den Anarchietage insgeheim das sog. „Stadtmarketing“. Eine happige Anklage, da diese Einrichtung nicht nur für die Förderung des Tourismus zuständig ist, sondern zumindest von der außerparlamentarischen Linken ebenso als Triebkraft hinter der rasanten Gentrifizierung der ehemaligen Industriestadt (Sulzer, Rieter) gesehen wird. Allerdings scheint gegen den geäußerten Vorwurf kaum ein Kraut gewachsen zu sein: Verfügt eine Organisation nicht über das entsprechende Kleingeld, um ohne staatliche Hilfe eine Lokalität in dieser Größe mieten zu können, bleibt ihr in Winterthur momentan kaum eine Wahl – es sei denn, sie würde die Veranstaltungen kostenpflichtig machen. Doch dies kam bei einer Buchmesse, die für alle an der Teilnahme und am Besuch Interessierten offenstehen sollte, nicht in Frage.
Etwas schwieriger gestaltete sich die Überzeugungsarbeit, die für die Beteiligung von Organisationen und Verlagen geleistet werden musste. Zwar stieß der viersprachig verfasste Aufruf auf spontane Zustimmung, wichtige Institutionen des Schweizerischen Anarchismus wie die Bibliothek „Circolo Carlo Vanza“ aus Locarno6 oder der Medienvertrieb „SoWieSo“ aus Basel7 sagten sofort zu. Nach Gesprächen an der Frankfurter Buchmesse waren dann die meisten der anarchistischen Verlage aus Deutschland mit von der Partie. Und durch einen zweiten Aufruf, nun explizit an libertäre Organisationen aus der Deutschschweiz gerichtet, konnten schließlich auch Menschen aus der Region zur Teilnahme bewegt werden.
Die Werbung für die Buchmesse wurde ziemlich weit gestreut, wegen chronischer Budgetknappheit aber zum großen Teil nur im Internet. Weder in den lokalen noch in den landesweiten Medien stieß der Anlass auf Interesse, lediglich ein paar freie Radios mit regionaler Reichweite waren bereit, ausführlicher über die kommende Buchmesse zu berichten.
Die Buchmesse
So wussten die Organisatorinnen und Organisatoren Ende Januar zwar, dass gut 30 libertäre Anbieterinnen und Anbieter aus Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz an die Buchmesse kommen würden, jedoch nicht, ob sich überhaupt eine Besucherin oder eine Besucher blicken lassen würde. Doch sie wurden positiv überrascht: Am Samstag suchten schätzungsweise 100 bis 150 Interessierte den Anlass auf, viele davon Menschen, die sonst wenig gesehene Gäste auf anarchistischen Veranstaltungen hierzulande sind. Allerdings hat sich der für die Übersetzungen auf Englisch, Französisch und Italienisch betriebene Aufwand, gemessen an den Besucherinnen und Besuchern aus diesen Sprachregionen, kaum ausgezahlt.
Neben der eigentlichen Buchmesse fanden auch einige Lesungen und Referate statt, unter anderem zu den Themen Barrieren durchbrechen (die in Israel/Palästina – Sebastian Kalicha mit seinem eben im Verlag Graswurzelrevolution erschienen Sammelband), Anarchismus nach dem Fall der Mauer (die in Deutschland – Lou Marin), Anarchie und Strafe (Rudi Mühland) und einer Blockadeaktion gegen einen Bundeswehr-Transport in Schleswig-Holstein (Hauke Thoroe).8
Ein regelmäßig stattfindendes Treffen, das ursprünglich für den deutschschweiz-weiten Austausch von Anarchistinnen und Anarchisten erdacht wurde, sorgte dann am Sonntag eher für das typische Anarch@-Publikum. Es stellte sich jedoch heraus, dass die örtliche und zeitliche Überschneidung sich eher negativ auswirkte, als dass sie mehr Interessierte an die Anlässe hätte bringen können. Es war für viele Teilnehmende einfach zu verlockend, zwischen den Veranstaltungen zu pendeln, als sich auf eine allein zu konzentrieren.
Während der ganzen Buchmesse schließlich veranstaltete das Zürcher Kunstkollektiv „konverter“ eine Ausstellung mit seinen aktuellen Werken, die sich von Lyrik über Kurzgeschichten, Comicstrips, Fotografien und Installationen bis hin zu musikalischen Darbietungen erstreckten. Leider fand aber diese absolut sehens- und hörenswerte Ausstellung, die zwischen den beiden Räumen für die Buchstände und die Referate eingequetscht war, weit weniger Beachtung, als sie es verdient hätte.
Wie weiter?
Bereits auf der Buchmesse wurde über eine mögliche Fortsetzung im nächsten Jahr diskutiert. Klar scheint, dass sie wegen dem großen finanziellen, personellen und zeitlichen Aufwand kaum wieder von der LAW alleine getragen werden kann. Zudem stellt sich auch die Frage, ob die libertäre Buchmesse nicht an einem Ort veranstaltet werden sollte, der von der Romandie und Frankreich bzw. vom Tessin und Italien her schneller erreichbar wäre. Dies würde zumindest den Ansatz einer mehrsprachigen Buchmesse noch weiter unterstreichen.
Die anschließenden Anarchietage wurden übrigens dieses Jahr dann tatsächlich um einiges gekürzt. Trotzdem konnte die Veranstaltungsreihe nicht nur einen guten Teil der Buchmesse-Besucherinnen und -Besucher zum Bleiben bewegen, sondern auch noch einige weitere Interessierte von weiter her anziehen. Waren am Ende die Anarchietage doch noch immer das ausschlagende Argument, nach Winterthur zu reisen? Wir werden sehen – hoffentlich!
Sebastian Schüpbach
Anmerkungen:
[3] s. www.anarchistbookfair.org/background.html
[4] Für einen Überblick s. die Linkliste auf
www.buechermesse.ch/index.php?page=links&lang=de
[5] s. salonlivrelibertaire.radio-libertaire.org/spip.php?rubrique1
[6] www.anarca-bolo.ch/vanza/index.php
[8] Die Aufnahmen der Vorträge sind im Medienarchiv der Website der LAW abrufbar.