Trabi auf Touren

Ob sich die Landesvertretung von Rheinland-Pfalz das so vorgestellt hat, als sie das Chawwerusch-Theater für den 07.10.2009 in den Gutenberg-Saal ihrer Berliner Landesvertretung einlud? Ausgerechnet aus der Heimat des Propheten der „blühenden Landschaften“ kommt das Theaterkollektiv, das nun den Zuschauern nach 20 Jahren Mauerfall einen Spiegel vorhält. Die Handlung1 ist ein Abbild dessen, was in unserer Gesellschaft allgegenwärtig ist. Der „Trabi auf Touren“ – so das Stück – hat den Kofferraum voll mit Vorurteilen, an die sich die Menschen aus „dem Osten“ und „dem Westen“ hartnäckig klammern, weil sie außer ihrem Fußballnationalismus kaum Gemeinsamkeiten haben.

Ein Theater braucht ein Theater

Bereits von Anfang an greifen Chawwerusch-Stücke gesellschaftsrelevante Themen auf. Der Anfang, das war 1983, als das Theaterkollektiv als Projektarbeiten der Spiel- und Theater Werkstatt Frankfurt ihr erstes Stück entwickelt hat und sich als freies Theater selbst verwirklichen wollte. Bewusst wurde der Name Chawwerusch2 – Bande – gewählt. Und als solche wollten sie nach alten Traditionen und neuen experimentellen Ausdrucksformen suchen und sich gleichzeitig politisch betätigen. Als bunte Karawane zogen sie anfänglich mit Handkarren und später mit Pferdewagen und Traktor übers Land. „Eintritt frei, Kinder die Hälfte“, so lockten sie die Leute in ihr Wandertheater, und nach der Vorstellung ging der Hut rum. Manchmal bestand die Gage auch aus Naturalien.

Schräge Seitenhiebe auf Staat und Nation: Chawwerrusch

Doch die Theaterprojekte waren immer auf ein Jahr begrenzt, und mit der Zeit waren sie sich einig, „ein Theater braucht ein Theater“. Fündig wurde das Kollektiv im pfälzischen Herxheim. Ein verwaister Tanzsaal einer Dorfkneipe wurde zuerst Probe- und Schlafraum, um dann in viel Handarbeit Stück für Stück in ein ansehnliches Theater umgewandelt zu werden. Anfänglich misstrauisch beäugt – denn schließlich lauerten die Terroristen überall – sind sie heute aus dem pfälzischen Herxheim nicht mehr wegzudenken.

Provinz ist nicht gleich provinziell

Auch wenn der Pferdewagen längst einem LKW gewichen ist, gehört die Freilicht-Sommertournee noch immer zum festen Bestandteil des Chawwerusch-Spielplans. Warum reist eine Gruppe, die mittlerweile mehrere Auszeichnungen erhalten hat, noch immer über die Dörfer? Die Antwort kommt von Ben Hergl. Er ist überzeugt: „Große politische Gebilde wie Europa sind den Menschen zu abstrakt“. Er sieht die Notwendigkeit, die Dezentralität zu fördern. Schließlich hat jede Region ein eigenes Gesicht und eine eigene kulturelle Identität, die nicht durch Daily-Soaps und andere mediale Auswüchse genormt werden dürfen. „Denn dann wird die Kultur beliebig“. Regional heißt für Chawwerusch nicht Grenzen aufzubauen, sondern Grenzen im Denken einzureißen. In diesem Sinne haben sie 2005 den Pamina Kulturpreis3 für ihr Gesamtwerk bekommen.

Theater der Denkanstöße

Parallel zu ihrem Spielplan arbeiten die Chawweruschler noch als Theaterpädagogen an unterschiedlichen Projekten, bei denen z.T. ganze Dörfer eingebunden sind. Es ist faszinierend zu sehen, wie es Chawwerusch hierbei immer wieder schafft, trotz Widerständen auch geschichtlich heikle Themen aufzuarbeiten, ohne dabei den moralischen Zeigefinger zu erheben. Bei solchen Stationentheatern kommen nicht selten Neubürger eines Ortes zum ersten Mal mit den Alteingesessenen zusammen. Leute, die sich schon seit Jahren kennen, entdecken nicht gekannte Gemeinsamkeiten oder es entstehen immer wieder neue Theatergruppen. Wer einmal erlebt hat, wie über 100 LaiendarstellerInnen freiwillig bei strömendem Regen drei Tage hintereinander auftreten und dabei von über 2.000 triefnassen Zuschauern begeistert gefeiert werden, und wie Menschen aus den umliegenden Häusern mit Fön und Bügeleisen die DarstellerInnen in den Pausen trockenlegen, der kann erahnen, was regionale Kultur ist und wie solche Projekte auf das Zusammengehörigkeitsgefühl wirken. Das ist gelebte Anarchie.

Arbeiten ohne Chef

Wie kann ein solches Engagement über 25 Jahre gerettet werden? Zur Chawwerusch-Philosophie gehört es, das kreative Potential der gesamten Gruppe zu nutzen. Die Spielpläne werden bei einer jährlichen „Kunstklausur“ gemeinsam diskutiert und beschlossen. In Teamarbeit wird umfangreich recherchiert, improvisiert und die neuen Stücke werden gemeinsam entwickelt. Gemeinsam erfolgt auch die Auswahl der KünstlerInnen die für die Spielzeit eines Stückes die Rollen abdecken, die für die Authentizität benötigt werden. Denn wie würde z.B. ein Stück wirken, bei dem sich ein Pfälzer im Sächseln versucht und die Tochter der Familie bereits die 50 überschritten hat.

So entstehen Stücke, in denen sowohl situationskomische, als auch menschlich-tragische und herzliche Aspekte im Mittelpunkt stehen, und bei denen die Gradwanderung zwischen Aufklärung und Unterhaltung gelungen ist. Apropos Unterhaltung: Die Begegnung mit den Zuschauern nach der Darbietung ist Teil des Chawwerusch-Theaterkonzeptes. Also, hingehen, anschauen, begeistert sein!

Anmerkungen

1 Eine Komödie zum Nachdenken!

Vor der Wende haben sie sich im Urlaub am Balatonstrand kennen gelernt – zwei Familien aus Ost und West. An das Versprechen, sich gegenseitig zu besuchen, sofern die Grenze einmal fällt, haben sie nicht wirklich geglaubt. Nun stehen die „Ossis“ plötzlich vor dem Weingut der „Wessis“. Es gibt ein großes Hallo mit schönen Erinnerungen. Am nächsten Morgen streikt der Trabi und die Reparatur dauert an. In diese turbulente Wartezeit fällt im Juli 1990 das Endspiel der Fußball-WM. Auch zwischen den Familien kommt es zum stürmischen Ost-West-Finale. Während sich die Eltern an einer unsichtbaren Grenze gegenüberstehen, überschreiten die Kinder der beiden Familien bei fetzigem Punk-Rock nicht nur nationale Grenzen.

Teile des spartanischen Bühnenbildes – wie die multifunktionale Deutschlandfahne – werden regelrecht in die Handlung einbezogen. Das ist typisch für Chawwerusch. Ebenso die selbst komponierte Livemusik. So werfen sich z.B. die beiden Familien gekonnt schräg die beiden Nationalhymnen entgegen.

Weitere Informationen unter http://www.chawwerusch.de/

2 Chawwerusch bedeutet Bande und stammt aus der Vagantensprache Rottwelsch. Seit Anfang des 16. Jahrhunderts beim „fahrenden Volk“ bekannt, wird diese Sprache heute meist nur noch innerhalb von Handwerkerschächten (Vereinigungen von Handwerkern) weitergegeben.

3 PAMINA steht für PA = Palatina (Pfalz), MI = Mittlerer Oberrhein und NA = Nord Alsace (Elsass).

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