Der Kampf gegen die Armut scheint sich in Indien angesichts der Realitäten in einen Kampf gegen die Armutsbevölkerung gewandelt zu haben. Geschätzte 500 bis 650 Millionen Menschen treten auf dem indischen Arbeitsmarkt auf. Der Anteil der Arbeitskräfte im informellen Sektor liegt bei 93 Prozent. Sogar im organisierten Sektor arbeiten ca. 50 Prozent der Arbeitskräfte in ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen. Dies bedeutet, dass heute etwa 96 Prozent der ArbeiterInnen in Indien prekär beschäftigt sind, einschließlich der vielen Zwangs-, Kinder- und geschätzten 80 Millionen WanderarbeiterInnen in der Landwirtschaft (vom primären Sektor lebt etwa die Hälfte der indischen Bevölkerung) und in den industriellen und Dienstleistungszentren.
Die Arbeitsverhältnisse unterscheiden sich hier deutlich von den Formen informeller und prekärer Arbeit auf dem Land. Zeitlich befristete Beschäftigung/Leiharbeit, Gelegenheits- und Tagelöhnerjobs und „Selbstständigkeit“ (Existenzgründung) sind die dominierenden Formen der informellen Arbeit. Die tägliche Arbeitszeit beträgt meist zehn Stunden und mehr – oftmals wird an allen Wochentagen gearbeitet. Die Bezahlung liegt in der Regel unterhalb der staatlichen Mindestlöhne und unter denen der regulär Beschäftigten. Mit am schlechtesten entlohnt werden die geschätzten 90 Millionen LandarbeiterInnen. Meist ist die ganze Familie als „arbeitende Einheit“ mit einbezogen. Weder sind sie kranken- noch unfallversichert, noch erzielen sie irgendwelche Pensionsansprüche. Schriftliche Arbeitsverträge existieren nur selten, was das Einklagen von Ansprüchen quasi unmöglich macht.
Inklusion ohne Perspektiven
In Indien (und ganz Asien) scheint gegenwärtig das stattzufinden, was mit dem Begriff „inklusiver Liberalismus“ beschrieben wird. Dabei sollen sogenannte inklusive Geschäftsmodelle, also kleine ProduzentInnen, Bauern und KleinhändlerInnen, in transnationale Wertschöpfungsketten einbezogen werden.1
Ein Beispiel dieses Integrationsprozesses ist das Sumangali-System („glückliche Braut“) in Südindien: „Mädchen und junge Frauen aus den Dörfern werden für drei Jahre in Wohnheimen von Textilfabriken einkaserniert und arbeiten dort unter sklavenähnlichen Bedingungen. Wenn sie durchhalten, bekommen sie nach drei Jahren den gesamten Lohn ausbezahlt, um damit ihre Mitgift zu finanzieren.
Auch nicht wenige der fitten, gut ausgebildeten Call-Centre-Agentinnen sind aus genau diesem Grund in den boomenden Servicesektor eingestiegen. D.h. eine Integration der jungen Frauen in die „moderne“ industrielle Arbeitswelt findet statt, damit sie selbst aktiv das patriarchale Dowry-System [Mitgift-System, d.V.] fortführen können. Sie arrangieren selbst ein System, das Frauen abwertet, verachtet und unterdrückt“.2 Schul- und Berufsausbildung für Mädchen wird in Indien noch immer weitgehend als überflüssig angesehen. Frauen bleiben dadurch finanziell von Männern abhängig. Nur sechs Prozent aller erwerbstätigen Frauen in Indien gehen einer regulären Berufsarbeit nach.
Arbeiten, ungelernteʻ Frauen außerhalb des Hauses, bleiben ihnen nur die informellen und meist schlecht bezahlten Jobs in der Landwirtschaft, der Fischereiindustrie und als Nahrungsmittelsammlerin; im Dienstleistungsbereich oder in Sweat-Shops bei den nachgelagerten Produktionsstufen der Textil- und Elektroindustrie – oder sie erledigen von zu Hause aus Stückarbeit, mit einem unvorstellbar geringen Stücklohn.
Viele Frauen verbringen ihr ganzes Erwerbsleben im unorganisierten Arbeitssektor. Die Produktion und Zubereitung von Nahrungsmitteln, die Eigenproduktion von Kleidung, die Erziehung der Kinder, die Pflege von Mitgliedern der eigenen Familie und der Community, all das wird von der Gesellschaft zwar moralisch gefordert, aber nicht als Arbeit anerkannt.
Kollektive Strukturen gegen Konzernmacht
Im westindischen Bundesstaat Gujarat haben Frauen unter dem Namen Self Employed Women Association/SEWA ein neues Modell einer Gewerkschaft entwickelt. Diese Organisation von Frauen, die im informellen Sektor als „Selbstständige“ auftreten und verschiedenen Kastengruppen und Religionen angehören, hat sich zum Ziel gesetzt, Frauen umfassend zu ermächtigen und durch den Zugang zur Mainstream-Ökonomie deren ökonomischen und gesellschaftlichen Status zu verbessern. Darüber hinaus ist es der Frauengewerkschaft in Kooperation mit nationalen Versicherungsunternehmen gelungen, ein Versicherungssystem für die Gewerkschaftsmitglieder und ihre Familienangehörigen einzuführen.
Die aus der Initiative von Ella Bhatt und in Heimarbeit gedrängten Textilarbeiterinnen 1972 hervorgegangene Frauengewerkschaft ist eine Wegbereiterin für die gewerkschaftliche Organisierung von „Selbstständigen“ im unorganisierten Sektor. Jahrzehnte später beginnen nun auch traditionelle indische Gewerkschaften ihre Basis zu erweitern und Arbeitskräfte aus dem informellen Sektor als reguläre Gewerkschaftsmitglieder zuzulassen. In der mittlerweile in neun Bundesstaaten aktiven Organisation waren 2010 ca. 1,2 Millionen Frauen organisiert. Aufgebaut wurden außerdem über 100 SEWA-Frauenkooperativen im Produkt- und Dienstleistungsbereich zur Unterstützung der Frauen auf ihrem Weg in die wirtschaftliche Unabhängigkeit. „Wir sind arm“, antwortete Ella Bhatt in einem Interview 2010 auf die Frage, wie SEWA der Macht des Kapitals begegnen will, „aber wir sind nicht dazu bestimmt, arm zu sein – unsere kollektive Stärke kann uns nicht geraubt werden.“
[1] ↑ vgl. Christa Wichterich: Europa und Asien, www.asienhaus.de/archiv/asienhaus/europa-asien-april2013/2013-04-20_Wichterich_Asien-Europa.pdf.
[2] ↑ Ebendort.