Selber schuld

Quelle: radicalgraphics.orgEine
Schwierigkeit des Begriffs „prekär“ liegt darin begründet, dass
er eine wesentliche Dimension von Arbeit nicht thematisiert. Prekäre
Arbeit wird von Unsicherheit geprägt, ist körperlich oder psychisch
belastend, in zu lange Zeiteinheiten aufgeteilt – und miserabel
bezahlt. Die Dimension des durch Arbeit hergestellten Mehrwertes, um
den im Kapitalismus gesellschaftlich zu kämpfen ist, wird durch den
Begriff des „Prekariats“ im Gegensatz zu dem des „Proletariats“
nicht erfasst. Das „Prekariat“ macht schlichtweg beschissene
Arbeit bzw. muss sich mit den Schikanen des Arbeitsamtes rumschlagen
– die Standardfloskeln von „mehr Chancengleichheit“, „mehr
Bildung“ und „sozialer Mobilität“ sind da logische Folgen. Das
„Proletariat“ wurde hingegen als zur herrschenden Klasse
grundsätzlich feindlich oder zumindest oppositionell eingestellt,
mithin als politisch selbstbewusst definiert.
Die
moderne Gesellschaft erscheint jedoch als derart komplex, als dass
eine Aufteilung in zwei Klassen nicht mehr zu greifen scheint, steht
doch ein jahrzehntelanger Arbeiter bei VW sozial deutlich höher als
eine Leiharbeiterin im Altersheim – und wen soll ein verarmter
Imbissbetreiber bitte bestreiken? Die Frage nach dem politischen
Charakter der Ökonomie, nach ihrer herrschaftssichernden Struktur,
gerät dabei schnell mal in den Hintergrund.
 

Staat-Nation-Kapital-?!

Beschissene
Arbeit war und ist natürlich immer die massenhafte Grundlage des
herrschenden ökonomischen Systems. Beschissen für die Gesundheit,
beschissen für den Lebensunterhalt. Einher geht damit automatisch
der gesellschaftliche Reflex, diese Verhältnisse zu rechtfertigen.
Dazu dienten im Europa der Moderne von Beginn an die Nationalstaaten
als ideologisches Vehikel: Ökonomie nicht als Lebensgrundlage aller
Menschen, sondern als entfesseltes Wettrennen um eine anhand der
Wachstumsraten ablesbare „Leistungsfähigkeit“ der Bevölkerungen.
Der moderne deutsche Nationalismus kann dabei als überexemplarisch
betrachtet werden. Er begann mit der im Vergleich zu England und
Frankreich verspäteten Industrialisierung, wuchs schrittgleich mit
ihr überdimensional an, und glättete die dabei entstehenden
internen Widersprüche mithilfe eines aggressiven Antisemitismus. In
vielen europäischen Staaten des frühen 20. Jahrhunderts, die nicht
zu den Großmächten zählten und in denen entsprechend der eigene
nationale Status beklagt wurde, galt der rasante Aufstieg
Deutschlands als bewundernswert. Gerade das Bündnis aus
autokratischem Adel und Industriebourgeoisie machte das deutsche
Kaiserreich zum Vorbild all jener Herrschaftssysteme, die einen
Wandel zur Republik ablehnten, aber auf den wirtschaftlichen
Fortschritt bürgerlicher Ökonomien nicht verzichten wollten.

Der
Erste Weltkrieg, der die militarisierten Konsequenzen von Wachstum
und Wettbewerb untrüglich offengelegt hatte, änderte natürlich
auch nichts an den nationalen Aufstiegsphantasien des
portugiesischen, spanischen, italienischen oder griechischen
Bürgertums und Adels. Dass Gewerkschaften, ArbeiterInnenparteien
oder freie Assoziationen von Lohnabhängigen in diesem Kontext wie im
Deutschland der bismarckschen Sozialistengesetze als „Feinde des
Vaterlandes“ stigmatisiert wurden, war nur folgerichtig. Vor dem
zeitgenössischen Hintergrund der Organisation von Land- und
Industriearbeit im Europa der damaligen Zeit, zumal noch in der
Peripherie, wird deutlich, wie stark die ideologischen
Rechtfertigungsmechanismen von „prekärer“ Arbeit sein können:
Sogar die Tagelöhnerei in der spanischen Landwirtschaft in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die während der Erntezeit bis
zu 16 Stunden harte körperliche Arbeit am Tag zu einem Hungerlohn
und im restlichen Jahr meist Arbeitslosigkeit bedeutete, wurde mit
einigem Erfolg durch das Kazikentum verklärt und als Dienst an der
Nation gepriesen. Ähnlich wie heute wurde Armut und
Perspektivlosigkeit als ein doppeltes Entwicklungsproblem
interpretiert: Zum einen die ungebildeten LandarbeiterInnen, mit
denen ja keine profitablere Produktion anzustellen sei, zum anderen
der Zustand des Landes, der sich erst eben durch harte Arbeit
allgemein zu verbessern habe, bis eine „Wettbewerbsfähigkeit“
mit den führenden Industrienationen hergestellt sei. Als
„Kazikentum“ wurde in Spanien bis zum Beginn der franquistischen
Ära ein sich zu einer Agrarbourgeoisie gewandelter Landadel
bezeichnet, der die feudalen Strukturen 1:1 in ein
Niedrigstlohnsystem übertrug und das erwirtschaftete Kapital am
Finanzmarkt wiederverwertete. Auch die katholische Kirche erzielte
mit ihren riesigen Ländereien durch dieses System gigantische
Gewinne. Überhaupt türmte sich in Spanien bis zur
Weltwirtschaftskrise 1929 das Kapital nur so auf, sodass sich allein
von 1916 bis 1920 in Spanien 3.486 Aktiengesellschaften gegründet
wurden.
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Ursächlich
hierfür waren zum einen die de facto monopolkapitalistischen
Verhältnisse auf dem Land, also ein System des gemeinsamen Vorgehens
gegen internationale Konkurrenz einerseits und organisierte
LandarbeiterInnen andererseits, und zum anderen die spanische
Neutralität im Ersten Weltkrieg. Spanien belieferte alle
Kriegsparteien mit Rohstoffen und heizte so die
menschenverschlingende Materialschlacht zu Gunsten der eigenen
Industrie enorm an. Die unermesslichen hierbei erzielten Gewinne
begünstigten jedoch klassenkämpferische Positionen in der
ArbeiterInnenschaft, so dass mit den Gewinnen des Kapitals auch der
Organisationsgrad der Gewerkschaften wuchs. Ab 1917 erschütterten in
bald regelmäßigen Abständen landesweite Streiks und zahllose
regionale Aufstände das Sicherheitsgefühl der aufstrebenden
Oberschicht des Landes. Es beteiligten sich die hinsichtlich rein
monetärer Aspekte relativ bessergestellten IndustriearbeiterInnen in
Katalonien und dem Baskenland genauso wie die besitzlosen
TagelöhnerInnen in den ländlichen Gebieten Andalusiens. Ein
Facharbeiter in Barcelona konnte zumindest potentiell tatsächlich
sozial aufsteigen, während dies für eine mittellose Landarbeiterin
absolut aussichtslos war. Was die sehr verschiedenartig „prekär“
lebenden Menschen also einte, war nicht die vermeintliche soziale
Homogenität ihrer „Klasse“, sondern der unverschämte Reichtum
des Bürgertums und des Adels, der der eigenen Situation in
krassester Weise entgegenstand. Mit anderen Worten: Der politische
Charakter der Ökonomie wurde nur allzu deutlich.

Sieger
der Geschichte

Trotz
des eigenen Wohlstands schien die herrschende Klasse in Spanien einer
ausgeprägten Profilneurose anzuhängen. Bis heute hält sich –
sowohl in Spanien selbst als auch in den internationalen
Kulturwissenschaften – die Mär von der „Katastrophe von 1898“.
Gemeint ist die Niederlage des spanischen Militärs im Krieg mit den
USA, als Spanien mit Cuba, Puerto Rico und den Philippinen die
letzten Gebiete des einstmals riesigen Kolonialreiches verlor. Eine
einflussreiche und heute geradezu mystifizierte Gruppe von
Intellektuellen, die so genannte „generación del 98“, befasste
sich – so die gesellschaftliche Interpretation – mit der
„spanischen Tragödie“. Bis heute wird in Geschichtsbüchern von
einem Trauma gesprochen, und tatsächlich erschien im Spanien der
damaligen Zeit eine ganze Reihe von Büchern, die sich mit einem
vermeintlichen Niedergang Spaniens befassten. 1898 hatte sich
allerdings sowohl sozial als auch politisch nichts dramatisch
verändert, und die meisten derjenigen, die die angebliche
Katastrophe beklagten, hatten selbst keine Angehörigen in dem vor
allem auf Cuba ausgetragenen blutigen Krieg verloren.

Natürlich
leuchtet es ein, dass das Königshaus in einen dynastischen Scham
versank, nun die erste Generation seit 1492 stellen zu müssen, die
nicht über ein Kolonialreich herrschte, und dass NationalistInnen im
Umfeld des Militärs die verlorene territoriale Größe beklagten,
ist auch nicht weiter verwunderlich. Beide Seiten suchten ab 1907
Kompensation in Marokko, was zu den blutigen Riffkriegen 1909 und
1921-1926 führte und jenes spanische Afrikakorps schuf, an dessen
Spitze ein gewisser Francisco Franco mithilfe der deutschen und
italienischen Luftwaffe 1936 nach Spanien übersetzten sollte.

Dies
ist aber die einzige direkte historische Verbindung, die sich
zwischen 1898 und 1936 ziehen lässt – und doch wird heute allzu
oft suggeriert, die spanische Gesellschaft als Ganzes sei nach der
Niederlage im Krieg mit den USA in eine Identitätskrise gefallen,
die schließlich durch den Bürgerkrieg blutig gelöst wurde. Sowohl
in spanischen, britischen wie auch deutschen geschichts- und
literaturwissenschaftlichen Büchern werden die Klassenkämpfe auf
der iberischen Halbinsel bis 1936 häufig als unmittelbare Folge des
Verlustes der Kolonien dargestellt, als ob die ab 1919 unangefochten
stärkste spanische Gewerkschaft CNT die enttäuschten
Großmachtambitionen der ArbeiterInnen nur für die eigenen Zwecke
missbraucht habe. Schon damals wurde das Aufbegehren des Proletariats
als Konsequenz des Fehlens eines nationalen Wirs interpretiert –
die ArbeiterInnen fielen dem geschwächten Vaterland in den Rücken,
anstatt ihren Teil zum Bestehen im ökonomischen Wettrennen
beizutragen. Somit hat sich die nationalistische Lesart der
Geschichte in weiten Teilen bis heute erhalten.

Kein
Aufstand der Massen

Zu
der „generación del 98“ werden Klassiker der spanischen
Philosophie und Literatur wie Antonio Machado, Miguel de Unamuno oder
Ramón María del Valle-Inclán gezählt, die aber tatsächlich
höchst unterschiedliche Denk- und Stilrichtungen repräsentieren,
und die auf über 1898 weit hinausgehenden sozio-kulturellen Wurzeln
basieren. Unamuno war ein konservativ-katholischer Moralist,
Valle-Inclán hingegen ein hoch ironischer Zerstörer von Traditionen
und festgefahrenen kulturellen Strukturen mittels subtiler
Subversion. Dass die so verschiedenartigen Strömungen zu einer
„Generation“ zusammengefasst wurden, nur weil sie unter
unterschiedlichsten Vorzeichen Gesellschaftskritik übten, wird nur
in wenigen Werken wirklich substantiell kritisch hinterfragt. Allein
die Figur der „Identitätskrise“ ist natürlich schon mit
nationalistischem Gedankengut aufgeladen, liegt ihr doch die
Vorstellung einer nationalen Identität fundamental zu Grunde. Als
vehementer Verfechter einer solchen Sichtweise auf die
gesellschaftlichen Konflikte in Spanien bis zum Ausbruch des
Bürgerkrieges kann José Ortega y Gasset gesehen werden, der heute
als wichtigster spanischer Philosoph der Moderne verklärt wird. Er
gilt als Vordenker des heutigen spanischen Staates und sogar der
Europäischen Union. Sein Hauptwerk „Der Aufstand der Massen“
rollt das Problem der Verelendung dabei in einer bemerkenswerten,
aber durchaus prototypischen Weise auf: Durch die kapitalistische
Produktionsweise entstünden mit den Massenwaren auch die
Massenmenschen, letztendlich der Massenmensch als austauschbares
Objekt schlechthin. Der Massenmensch wird dadurch charakterisiert,
dass er Individualität nicht duldet, da nur die graue Masse sein
Zuhause ist – damit ist er per Definition Kultur, Tradition und
auch Demokratie feindlich gegenüber eingestellt und trachtet allem
Außergewöhnlichen den Garaus zu machen.

Wohlgemerkt
erschien dieses Buch um 1930, einer Zeit, in dem die sozialen
Verhältnisse, die die Massenproduktion hervorrief, in Europa und
gerade in Spanien den Betrachtenden geradezu ins Gesicht springen
mussten – Armut und körperliche Gefährdung hier, ausladender
Reichtum und Macht dort. Doch Ortega y Gasset interpretiert das
Mehrwertproblem als ein moralisches: Während die proletarischen
Massen aufgrund mangelnder Bildung die Errungenschaften der
Zivilisation zu zerstören drohen, fehlt es der dekadenten
Oberschicht an philosophischer Klarheit und moralischer Tugend.
Zusammen mit einer Gleichsetzung von Faschismus, Bolschewismus und
Syndikalismus hat diese oberflächliche Schelte an den Herrschenden
den Mythos Ortega y Gassets begründet – er habe in seinem Plädoyer
für eine an der Demokratie des alten Athens (dessen
Sklavenhaltergesellschaft Ortega y Gasset natürlich unter den Tisch
fallen lässt) orientierte Europäisierung der Politik die Gedanken
der konstitutionellen Monarchie ab 1978 und der Europäischen Union
vorweg genommen. Und tatsächlich: die Vision einer technokratischen
Elitendemokratie und eines desorganisierten, vereinzelten und somit
zynisch „individuellen“ Prekariats scheint sich erfüllt zu
haben. Doch die Krise ist geblieben.

Marcus
Munzlinger

Anmerkungen

[1] Vgl. Tuñón de Lara, Manuel: Strukturelle Ursache und unmittelbare Anlässe, in: Tuñón de Lara, Manuel: Der Spanische Bürgerkrieg: Eine Bestandsaufnahme, edition suhrkamp, Frankfurt a. M. 1987.

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