Nach rechtlicher Definition gilt als selbstständig, wer für sein/ihr Werk bzw. für das Werk seiner/ihrer Angestellten vergütet wird, während abhängig Beschäftigte für ihr Wirken, also ihre Arbeitskraft, bezahlt werden. In den letzten fünfzehn Jahren ist nach Jahren der Stagnation die Selbstständigkeit in Deutschland wieder gestiegen. PolitikerInnen aller Couleur feiern, werden sie darauf angesprochen, diesen Umstand als ein Ergebnis ihrer jeweiligen Regierungsjahre. Allgemein wird diese Entwicklung in den Reihen dieser Damen und Herren euphorisch begrüßt und angenommen, es handele sich dabei um einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformierungsprozess, an dem der Aufschwung der deutschen Wirtschaft abzulesen ist. Selbstständigkeit ist hier ausschließlich positiv besetzt, mit Begriffen wie Selbstverwirklichung, Dynamik, Selbstbestimmung oder unternehmerischer Freiheit. Derzeit stehen in Deutschland 41 Millionen Erwerbstätige 4,2 Millionen Selbständigen gegenüber.
Wer die DA regelmäßig liest oder wenigstens diese Ausgabe in der richtigen Reihenfolge bis zur letzten Seite bewerkstelligt hat, kann sich denken, was nun kommt, nämlich: Pustekuchen! Wer die Zahlen genau betrachtet, wird feststellen, dass die Zahl derer, bei denen sich Selbstständigkeit noch von Selbstbestimmung ableitet, in genau diesem Zeitraum gleich bleibt. Dagegen steigt die Zahl von prekärer Selbständigkeit, also von Erwerbstätigkeit, die im Gewand der Selbstständigkeit daher kommt. Namen für diese Selbstständigkeit gibt es viele: Sub-, Familien-, und Kleinstunternehmen, Freelancer, Honorarkräfte, Freiberufliche, Soloselbstständige usw. Die Lebensrealität dieser Leute steht oft im krassen Gegensatz zu den Vorstellungen der PolitikerInnen. Denn die Betroffenen müssen sämtliche Risiken sozialer Sicherung selbst tragen. Zwar gibt es in den klassischen freien Berufen durchaus GutverdienerInnen, etwa Anwälte, SteuerberaterInnen etc. Für den Großteil der Soloselbstständigen jedoch bedeutet dieses Arbeitsmodell erstens Armutsverwaltung, nicht zuletzt wegen fehlender tariflicher Bindung oder Auftragslosigkeit. Zweitens Unstetigkeit, also den häufigen Wechsel zwischen Erwerbstätigkeit und Selbstständigkeit. Drittens Destandardisierung und Mobilität, so arbeiten viele Selbstständige wesentlich mehr als 40 Stunden in der Woche, während andere zu wenige Wochenarbeitsstunden für sich verbuchen können, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sowie viertens Erwerbshybridisierung, die sich in Mehrfachbeschäftigungen oder zeitgleichen Beschäftigungskombinationen ausdrückt. Die Grenze zur Scheinselbstständigkeit wird überall da überschritten, wo Soloselbstständige nur einen Kunden haben. Dies ist besonders dann der Fall, wenn Teile eines Betriebes von Outsourcing betroffen sind und dann von den gleichen Menschen unter dem Deckmantel der Selbstständigkeit weitergeführt werden.
Obwohl der Trend zur Dienstleitungsgesellschaft diese Entwicklung befördert, ist fast keine Berufsgruppe davon ausgenommen. Besonders betroffen sind aber die zukünftigen Hoffnungsträger der Wirtschaft: der IT-Bereich, die Kultur- und Kreativwirtschaft sowie die Gesundheitsindustrie. Da in den letzten beiden Bereichen durchschnittlich mehr Frauen arbeiten, sind diese wesentlich stärker von dem Phänomen der Soloselbstständigkeit betroffen. Als zusätzlicher Push-Faktor wirkt die steigende Arbeitslosigkeit. Die Hoffnung, durch Selbstständigkeit materielle Existenzsicherung zu gewährleisten, steigt mit dem Verlust eben dieser. Hier zeigt sich im internationalen Vergleich, dass der Faktor Unsicherheit in Deutschland wesentlich stärker zur erzwungenen Selbstständigkeit führt als in anderen Ländern.
Es mag paradox klingen, aber Selbstständigkeit gehört heute, allen Politikvorstellungen zum Trotz, in den Themenkomplex der Prekarisierung und ist in der Debatte darüber noch nicht angekommen.