Ausgerechnet Sarkozy wollte die Leiche von Camus in die nationale Ruhmeshalle Panthéon umbetten. Dieser Versuch schlug fehl. Die Mittelmeersonne scheint immer noch auf sein Grab in dem südfranzösischen Dorf Lourmarin, wo der Schriftsteller nach einem tödlichen Verkehrsunfall seit 1960 beerdigt ist.
Vor allem um Camus’ 100. Geburtstag 2013 streiten intellektuellen Kreise um die Interpretation seiner Werke. Der Mainstream-Philosoph Michel Onfray will Camus sogar als libertären Kapitalisten sehen. Viele sehen in ihm den Anti-Totalitaristen, was er mit Sicherheit war. Allein sein Werk „Der Mensch in der Revolte“ (1951) liefert den Beweis. Andere stilisieren Camus aber zum Verteidiger der bürgerlichen Demokratie, was er auf keinen Fall war. Camus drückte 1953 in einer Rede vor revolutionären SyndikalistInnen in
St.-Étienne seine Meinung aus: „Die Unterdrückten wollen nicht nur von ihrem Hunger befreit werden, sondern auch von ihren Herren.“ So spricht kein lupenreiner Vorzeige-Demokrat, sondern einer, dessen „Sympathien dem libertären Syndikalismus gelten.“ Wie aber ist Albert Camus aus anarchistischer Sicht zu verstehen? Es ist der Verdienst des Autors Lou Marin, die intensiven Verbindungen zwischen Camus und der anarchistischen Bewegung dem Vergessen entrissen zu haben. Lou ist seit Anfang der 80er Jahre Mitherausgeber der gewaltfrei-anarchistischen Zeitung „Graswurzelrevolution“. Mit dem libertären Camus hat sich Lou Marin schon seit den 90er Jahren beschäftigt. 1998 erschien sein Buch „Ursprung der Revolte. Albert Camus und der Anarchismus“, das nicht nur in libertären Kreisen für Furore sorgte. Den meisten LeserInnen war Camus nur als Literaturnobelpreisträger und Mitbegründer des Existenzialismus bekannt. Durch Lou Marin war der erste Kontrapunkt für den libertären Camus im deutschsprachigen Raum gesetzt. Es folgten weitere Artikel zum Thema in Deutsch und Französisch. Und weitere Recherchearbeit, auf die 2013 ein weiteres umfangreiches Buch folgte: „Albert Camus – Libertäre Schriften (1948-1960)“. Camus wird in seiner eigenen Diskussion mit französischen, spanischen und algerischen AnarchistInnen und SyndikalistInnen vorgestellt. Auf einer seiner Lesereisen befand sich Lou Marin Anfang Mai zu einer gutbesuchten Lesung in Mannheim, die von der Anarchistischen Gruppe und dem örtlichen FAU-Syndikat organisiert wurde.Laut Lou Marin gibt es bei Camus’ Leben und Werk verschiedene Phasen, in denen er sich immer weiter zum Anarchismus hinwendete. Geboren 1913 wuchs Camus in armen Verhältnissen in Algier auf. 1931 brach die Tuberkulose bei ihm aus, unter der er sein ganzes Leben litt. Von 1935 bis 1937 war er Mitglied der Kommunistischen Partei, die zu der Zeit antikoloniale Politik betrieb. Ab 1937 begann Camus zu schreiben, was ihn später zu literarischem Weltruhm führen würde. Er arbeitete als Reporter bei einer linken Zeitung, verfasste Artikel über das Elend der kolonialen Ausbeutung. Camus engagierte sich für den Pazifismus, für Kriegsdienstverweigerung und für Desertion. Camus lernte den Syndikalisten und Unabhängigkeitskämpfer Messali Hadj kennen. Wegen seiner Solidarität zu Hadj und seiner Bewegung wurde Camus aus der KP ausgeschlossen. Später in den 50er Jahren eskalierte der Streit innerhalb der algerischen Befreiungsbewegung zu einem gewaltsamen Konflikt. Die „MessalistInnen“, die eine föderative Ordnung nach der Befreiung bevorzugten und die auch Camus unterstützte, wurden durch die staatssozialistische FLN (Front de Libération National) zerschlagen, es gab über 10.000 Tote. Nur die libertäre Presse in Frankreich erhob dagegen Protest.Nach dem Kriegsbeginn siedelte Camus 1940 nach Paris über, schloss sich nach der deutschen Besetzung Frankreichs der Résistance um die Gruppe „Combat“ an, die eine gleichnamige Untergrundzeitung herausgab. Camus revidierte seine pazifistische Einstellung im Kampf gegen die Nazis, behielt aber seine Gewaltkritik bei. Er wandte sich gegen Attentate auf die deutschen FaschistInnen und das französische Pétain-Regime. Ebenso setzte er sich nach der Befreiung 1944 gegen die Todesstrafe für KollaborateurInnen ein. Camus wollte keinen Terror für Terror, den Kampf gegen die Todesstrafe setzte er sein Leben lang fort.Schon 1940 wurde Camus durch die Anarchistin Rirette Maîtrejean in libertäre Kreise eingeführt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit besuchte er Treffen, nahm an Versammlungen und Kampagnen teil, knüpfte Freundschaften und schrieb ab 1948 regelmäßig in französischen anarchistischen Zeitungen, wie „Témoins“, „Le Libertaire“, „Le Monde libertaire“, „La Révolution prolétarienne“ und vielen anderen. Insbesondere die vielen Flüchtlinge, die aus Spanien vor der Franco-Diktatur geflohen waren, unterstützte Camus nicht nur durch seine Worte, sondern auch durch finanzielle Mittel. Die Hälfte des Nobelpreisgeldes spendete er an spanische Familien. „Camus war von jener seltenen Sorte Mensch, der überhaupt keine Selbstdarstellung suchte oder irgendeinen HeldInnenschein aufgrund seiner Solidaritätsgesten bekommen wollte. Er bestand im Gegenteil darauf, dass nicht bekannt werde, dass diese oder jene Geldsumme zur Unterstützung gefangener GenossInnen oder ihrer Familie von ihm stammte. Brassens verfuhr ebenso …“, schilderte Fernando Gómez Peláez, damaliger Chefredakteur der CNT-Wochenzeitung „Solidaridad Obrera“.Vor allem der unerbittliche Streit mit seinem ehemaligen Freund Sartre, der 1952 Camus’ Buch „Der Mensch in der Revolte“ zerriss, beleuchtet die grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen dem autoritären Sozialismus und dem freiheitlichen, dem libertären Sozialismus, wie Camus ihn vertrat. Schon damals wurden die antiautoritären Positionen nur von einer kleinen Minderheit getragen, und daran hat sich bis heute nichts geändert.Das neue Buch von Lou Marin über Camus’ libertäre Schriften wird mit seinen 380 Seiten nicht in einem Satz durchgelesen. Aber es ist nicht nur geschichtlich interessant, sondern im Zeichen der Krise des Kapitalismus auch höchst aktuell.Und eine Veranstaltung mit dem Genossen Lou macht immer Freude. Sachlich-kompetent mit jeder Menge Details und Anekdoten führt er durch die Lesung und beantwortet ausführlich die Fragen aus dem Publikum.
Lou Marin (Hg.): Albert Camus – Libertäre Schriften 1948-1960 Laika Verlag 2013 ISBN 978-3-942281-56-0.