Gesichter der Revolution

Als zum zehnten Todestag von Sean McGuffin (1942-2002) 2012 im Bogside Viertel des nordirischen Derrys die bekannte, seit Januar 1969 benutzte Parole „You are now entering free Derry“ schwarz und rot untermalt wurde, war das in mehrerer Hinsicht bemerkenswert: Vermutlich hätte es McGuffin weniger trocken rübergebracht und würde trotzdem nicht widersprechen: Wie kein anderer lebte er als Anwalt und Schriftsteller (u.a. Edition Nautilus „Der Hund“, „Der fette Bastard“) eine impulsive Verbindung zwischen irischem, antibritischem Befreiungskampf und Anarchismus. So war er eines von etwa 20 Mitgliedern der 1968 entstandenen Belfast Anarchist Group, einem Vorläufer der inzwischen gewachsenen und sehr lebendigen anarchistischen Bewegung, sowohl in Nordirland als auch in der Republik. – Heute gibt es eine ganze Reihe von Gruppen der Workers Solidarity Movement und der Solfed Ireland, dazu lokale Gruppen wie die Derry Anarchists, die neben vielem anderen mit dieser Würdigung Mc Guffins aktiv waren.


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Die Untermalung der Parole macht aber auch deutlich, welche enorme Aussagekraft ein einziges Wandbild entfalten kann.In Irland sind Wandbilder Erinnerungen an die vielen Getöteten im Unabhängigkeitskrieg und an das Leid etwa während des Hungerstreikes im Internierungslager Long Kesh ebenso wie Mahnung, den Kampf sozial und politisch weiterzuführen.Natürlich dürfen Mittel und Inhalt nicht verwechselt werden. Wandgemälde können und werden ebenso von reaktionären rechten Gruppierungen benutzt, in Nordirland zum Beispiel von den offiziell verbotenen Ulster Defense Association (UDA) und Ulster Volunteers Force (UVF), die damit ihre gewollt pro britischen, fanatisch protestantischen und möglichst weißen Stadtteile und Dörfer eingrenzen, aus denen sie KatholikInnen und MigrantInnen mit Gewalt zu vertreiben suchen.Während Wandgemälde in Nordirland zeigen, wer das Gebiet kontrolliert, sind sie anderenorts im öffentlichen Raum oft umstritten. In Newport, Wales, gingen zum Beispiel im Oktober 2013 mehrere hundert Menschen auf die Straßen, um gegen die Zerstörung eines Wandgemäldes zu protestieren, das einen Marsch der ChartistInnen von 1839 zeigte, eine Art frühe BürgerInnenrechtsbewegung, die damals in Newport von SoldatInnen angegriffen wurde. Trotz des Protestes musste das Bild einem Shopping Center weichen. Szenenwechsel: Wandgemälde und Graffiti in Kairo und anderen ägyptischen Städten waren und sind die Gesichter der Revolution, die Mubarak stürzte, des arabischen Frühlings seit 2011. Ähnliche Wandbilder entstanden in allen von Aufständen betroffenen Staaten der Region. Doch viele Bilder der RevolutionärInnen in Kairo werden von ihren GegnerInnen wieder übermalt oder abgewaschen. Dafür entstehen sie oft erneut, werden abgewandelt und weitergeführt, auch solche beeindruckenden wie das von Shaza Khaled und Aliaa El Tayeb in der Mohamed Mahmoud Straße. Es zeigt einen griechischen Aktivisten mit schwarz-roter anarchistischer Fahne, der mit einer Ballerina auf der Straße tanzt. Bilder und Parolen strahlen ins Leben, in den Alltag aus, sollen zur Diskussion anregen und tun dies meist auch. Wie ein Aktivist aus Kairo sagt: „Ich bin kein Künstler, ich bin nicht unbedingt besessen von Pinseln und Bildern. Ich bin ein menschliches Wesen, das eine Idee mit einer bestimmten Methode vermitteln will.
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Nicht mehr, nicht weniger. Dies ist keine Ausstellung. Die Bilder gehören den Menschen auf den Straßen. Ihr werdet die Fußballfans der Ultras (von Cairos al-Ahly Football Club) sehen, für die diese Wandgemälde die Gedenkorte für ihre getöteten FreundInnen sind. Viele Leute, die vorbeigehen, beten für die MärtyrerInnen und ihre Eltern und Geschwister. Es geht um weit mehr, als KünstlerInnen das Bemalen von Wänden im Stadtzentrum zu erlauben.“In der Tat geht es oft auch darum, unterdrückte Informationen zu veröffentlichen. Besonders die allgegenwärtige Gewalt gegen Frauen wird thematisiert, die sich im Zuge der Revolution emanzipierten. Etwa der Kampf vor Gericht gegen Folter an Demonstrantinnen. Einige Bilder wie die beschriebene Balletttänzerin lassen eine Nähe zu der im Mai 2011 gegründeten Libertären Sozialistischen Bewegung vermuten, wie auch zum anarchistischen Schwarzen Block, der am Sturz Mursis beteiligt war, sich nun aber dem vom erstarkten Militär zurückeroberten Staat General al-Sisis gegenübersieht.
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Es ist nicht nur das Bild, sondern genauso ein bestimmtes Haus, eine bestimmte Wand, die entscheidet, wie groß die Wirkung ist. So sprechen beispielsweise die Bilder auf der Mauer, mit der der Israelische Staat missliebige PalästinenserInnen aussperrt, alleine schon durch den Ort Mauer für sich. Oder in Brasilien die Bilder, die in den Städten der Fußball-WM die soziale Ungleichheit aufzeigen. Entsprechendes gilt auch für Deutschland, woran schon ein kleiner Spaziergang im Berliner Mauerpark erinnern kann. Aber auch Rote Flora und die vielen (ehemals) besetzten Häuser grüßen mit ihren Bildern und Aufrufen. Graffiti und Wandgemälde sind Erinnerungen, Würdigung, Dokumentation stattgefundener Kämpfe und AktivistInnen, vor allem aber Aufklärung und Aufruf. Revolutionäre Inhalte dringen ins Bewusstsein vor, und Bilder werden so zu Mitteln der Veränderung, wirken für soziale Umwälzungen wie Enteignungen des privatisierten Eigentums für die Allgemeinheit und Kollektivierung. Doch diese wirklich grundlegenden Veränderungen selbst stehen noch aus, in Irland, in Ägypten, hier sowieso: Die bisherigen Erfolge der Kämpfe sind so unvollendet und angreifbar wie die Bilder, die sie zeigen.

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