Liebe Dilar, eines Abends verkündete Claus Kleber effektvoll im ZDF-heute-Journal dem deutschen Fernsehpublikum die Existenz einer „Terrorgruppe“ namens ISIS. Sind in Syrien und im Irak vor ein paar Monaten Außerirdische von einem fernen islamistischen Planeten gelandet?
Anscheinend. Die Warnungen der KurdInnen aus Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien), die seit fast zwei Jahren gegen IS und andere dschihadistische Gruppen wie al-Nusra kämpfen, waren hingegen also nur Hirngespinste! Zu Beginn des Aufstands in Syrien wurde jede Gruppe, die auch nur im entferntesten als Opposition zu Assad gelten konnte, vom Westen auf höchst enthusiastische Art und Weise unterstützt und als „revolutionär“ gepriesen. Da die
DschihadistInnen aber mittels ihrer Ideologie eine radikale und brutale Kriegsstrategie umsetzten, konnten sie die größten Erfolge gegen die Regimetruppen erzielen. Deshalb musste der Westen in seiner Sicht auf den Krieg in Syrien die enorme Rolle der IslamistInnen im Assad-feindlichen Lager lange Zeit verdrängen oder bewusst ignorieren. Das hat natürlich auch Assad dazu ausgenutzt, zu behaupten, in Syrien gäbe es überhaupt keine ernst zu nehmende demokratische Opposition – doch dass im Umkehrschluss westliche Politik und Medien die Rolle der IslamistInnen dermaßen lange als Propagandamärchen Assads dargestellt haben, ist einfach unbegreiflich. Derweil belieferten Länder wie Saudi Arabien und Katar diese DschihadistInnen mit Waffen, die sie aus dem Westen und auch aus Deutschland einkauften. Und nun möchte man uns weismachen, dass der IS aus dem Nichts entstanden ist. Was mich schockiert, ist, dass diese Geschichte von einer Mehrheit auch noch abgekauft wird.
Beim Umgang der westlichen Staaten mit dem syrischen BürgerInnenkrieg zeigte sich gerade in Bezug auf die DschihadistInnen ohnehin schnell, dass es von Beginn an mehr um diplomatisches oder machtpolitisches Kalkül denn um die Unterstützung demokratischer Strukturen ging. Als im Sommer 2012 nach dem Zusammenbruch der lokalen Strukturen des Assadregimes im nordsyrischen/westkurdischen Rojava eine Revolution verwirklicht wurde, aus der auf demokratische Weise die linke, ideologisch der nordkurdischen PKK nahestehende Partei PYD als stärkste Kraft hervorging, geriet der türkische Staat mit seiner langen Grenze zu Syrien in Panik. Die Kollaboration der türkischen Regierung mit den DschihadistInnen in Syrien zur Destabilisierung des demokratischen Projekts in Rojava ist mittlerweile wirklich mehrfach bewiesen: Während die Grenze für zivilen Handel und Flüchtlinge aus Rojava in die Türkei militärisch geschlossen blieb, konnten dschihadistische KämpferInnen je nach taktischer Lage munter über die türkische Grenze Angriffe auf Rojava starten. Auch die Behandlung von verwundeten DschihadistInnen in türkischen Krankenhäusern ist dokumentiert. All dies wird nun so langsam auch von den westlichen Medien thematisiert, nachdem lange Zeit gemäß der diplomatischen Logik der NATO-Staaten die PYD entweder als Gefahr für die Türkei oder für die Einheit Syriens dargestellt und ihre Marginalisierung als notwendige Politik betrachtet wurde. Um Demokratie ging es dabei also erkennbar nicht.
Die Bundesrepublik Deutschland steht mal wieder vor einer Zäsur in der Militarisierung ihrer Außenpolitik: Im Hauruckverfahren werden wie bei Hilfslieferungen in ein Tsunamigebiet Militärgüter in den Irak verschickt. Wer wird diese Güter empfangen, und welche Überlegungen stecken dahinter?
Die Hastigkeit dieser Entscheidungen ist äußert verwunderlich, vor allem, wenn man bedenkt, dass sich die Bundesregierung alle Zeit der Welt gelassen hat, sich überhaupt über den Ernst der Lage klarzuwerden. Nun wird versucht, die Waffenlieferungen an den Irak als „moralische Pflicht“ an die Öffentlichkeit zu verkaufen. Wie man von Moralität sprechen kann, wenn die Waffen, mit denen die Kriege und Schlachten im Nahen Osten geführt werden, größtenteils ohnehin aus dem Westen kommen, ist natürlich eine andere Frage.
Auf der kurdischen Seite werden diese Waffen an die Autonome Region Kurdistans im Nordirak (Südkurdistan) geliefert werden, also direkt in die Hände der regierenden KDP. Diese Partei ist eng mit der Türkei verbündet und hat daher – und natürlich auch aus eigenen machtpolitischen Erwägungen – die Politik der Destabilisierung Rojavas mit getragen. Als der IS in Syrien Rojava angriff, eilten nicht etwa die Peshmerga-Kräfte der KDP über die irakisch-syrische Grenze zu Hilfe; stattdessen wurde ein Grenzgraben zwischen Rojava und der Autonomen Region ausgehoben, wodurch die Bewegungs- und Beschaffungsmöglichkeiten für die Menschen in Rojava in ihrem Kampf gegen den IS enorm eingeschränkt wurden. Die Regierung der Autonomen Region Kurdistans im Nordirak, die nun die Unterstützung des Westens bekommt, hat also zuvor den Kampf gegen den IS aktiv sabotiert. Genau diese Regierungspartei zog sich nun Anfang August 2014 bei den Angriffen des IS auf Sengal im Irak ohne Kampf zurück und wartete auf amerikanische Hilfe. So mussten – Ironie der Geschichte – die Volksverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ aus Rojava eingreifen, um die JesidInnen vor einem Völkermord zu schützen. Kurz darauf wurden sie dabei auch von PKK-Guerrillas unterstützt. Durch einen humanitären Korridor wurden Zehntausende von JesidInnen nach Rojava gebracht und vor dem IS gerettet. Nicht die KDP-Regierung, die nun als letzte Hoffnung wider den IS präsentiert wird, sondern jene kurdischen Einheiten aus Syrien und der Türkei, die diese Regierung durch ihren Opportunismus marginalisiert hatte, haben die JesidInnen gerettet. Hieran lässt sich erkennen, wie an den Menschen vorbei kaltblütige Kalkulationen gemacht werden, die zurzeit einer barbarischen Kraft wie dem IS ins Gesicht blicken: Darüber, wer dem Westen nützt und wer nicht, ob sie westliche Unterstützung „verdienen“ oder nicht. Solch Kalkül, während die Schlüsselrolle der YPG/YPJ und der PKK bei der Rettung der JesidInnen unerwähnt bleibt, ist regelrecht erniedrigend. Das Fernsehen zeigt um Hilfe bittende jesidische Menschen, aber die nach der Evakuierung weit verbreitete jesidische Parole „Gott und die PKK haben uns gerettet“ wird überhaupt nicht abgebildet.
Claus Kleber & Co. geben der deutschen Öffentlichkeit ja gerade einen medialen Crash-Kurs in Middle East Studies. Würdest Du sagen, dass es in Deutschland nun ein größeres Verständnis der Situation in Syrien, Irak und Kurdistan gibt?
Zunächst einmal sind diese grundschulartigen Crash-Kurse orientalistisch, simplifizierend, banal, chauvinistisch und, wenn es um die Repräsentation kämpfender kurdischer Frauen geht, auch extrem sexistisch. Gestern wusste niemand, wer die JesidInnen sind, heute ist jedeR Kurdistan-und-IS-ExpertIn. Früher gab es im Kinderkanal eine Sendung namens logo!. Da wurden Nachrichten für Kinder gesendet, und genau so klingen diese Infoschnelldurchgänge über den Nahen Osten jetzt auch. Diese impliziten Fragestellungen wie „Verdienen die Kurden Unterstützung? Sind sie unfanatisch, pro-westlich genug?“ sind nicht nur intellektuell arm, sondern auch einfach nur respektlos.
Dieses Jahr fand in Hannover eine Demonstration im Gedenken an Halim Dener statt, der vor 20 Jahren mit gerade mal 16 Jahren von einem deutschen Polizisten erschossen wurde. Der Vorfall geschah im Kontext des nach wie vor bestehenden PKK-Verbotes vom November 1993 als „terroristische Vereinigung“. Somit werden PKK und IS im deutschen Diskurs beide als „terroristisch“ bezeichnet – welches politische Verständnis von „Terrorismus“ steht dahinter?
Es braucht nur eine minimale Anstrengung, um zu erkennen, dass man die PKK wohl kaum in dieselbe Kategorie wie den IS stecken kann. Doch Schwarz-Weiß-Denken und Wir-und-sie-Diskurse führen dazu, dass sich so eine absurde Darstellung konsolidieren kann – erst im Kalten Krieg, heute in der Post-9/11-Ära. Politik im Rahmen von Gut und Böse zu definieren, hilft der Aufrechterhaltung des Status Quo, denn somit werden die Widersprüche sehr leicht ausgeblendet. In diesem Fall wird gesetzlich, diplomatisch und ideologisch kein Unterschied gemacht zwischen AkteurInnen, die sich politisch dem Status quo widersetzen, und barbarischen Banden, die Andersgläubigen den Kopf abschlagen und Frauen auf Sexsklavenmärkten verkaufen. Die PKK hat sich mehrmals von gewalttätigen Aktionen, die unter ihrem Namen durchgeführt wurden, abgegrenzt und vor allem die eigenen autoritären Einstellungen der frühen Jahre scharf kritisiert. Zudem kam während der sogenannten Ergenekon-Prozesse raus, dass viele der Gewalttaten, für die man in den 90ern die PKK verantwortlich gemacht hatte, vom türkischen „tiefen Staat“ ausgeführt wurden. Jedoch setzt sich die türkische Justiz damit nicht auseinander. Die PKK hat trotzdem bereits mehrere einseitige Waffenstillstände ausgerufen und Friedensprozesse eingeleitet. Es waren Öcalans Friedensverhandlungen, dank derer es seit über einem Jahr keinen aktiven Krieg mehr in der Türkei gibt. Die PKK will eine politische Lösung – und ihr Verbot erschwert diesen Prozess nur.
Zudem werden durch das Verbot innerhalb der EU ganze Gemeinden von gewöhnlichen Leuten kriminalisiert. Telefone werden abgehört, Demobusse werden bei stundenlangen Kontrollen festgehalten. Es gibt viele Fälle, in denen die Polizei bei kurdischen Jugendlichen angefragt hat, ob sie nicht ihre Gemeinde ausspionieren möchten, bevorzugt bei denen, die Aufenthaltsprobleme haben. Wer sich weigert, dem wird mit Abschiebung gedroht.
Seit dem offiziellen Ende des Kolonialismus sind im Nahen und Mittleren Osten viele Staaten gegründet und eingerissen worden. Würdest Du die derzeitige Lage als das Scheitern des Staates als Gesellschaftsmodell bezeichnen?
Die aktuelle Lage in Kurdistan und generell im Nahen Osten verdeutlichen ganz klar, dass das Paradigma des Nationalstaates nicht gesellschaftlichen Fortschritt, sondern im Gegenteil Barbarei mit sich brachte. Die Grenzen, die ohne Rücksicht auf die existierenden Lebensformen gezogen wurden, haben die gelebten Realitäten nie widergespiegelt. Nun sehen wir die Resultate auf die grauenhafteste Art und Weise – auch in den kurdischen Gebieten.
Sie wurden auf vier verschiedene Staaten aufgeteilt, die Menschen einer Teile-und-Herrsche Politik ausgesetzt und gegeneinander als Proxies ausgenutzt. Nachdem im irakischen Südkurdistan mit amerikanischer Hilfe eine „No Fly“-Zone errichtet wurde, wurde die dortige Verwaltung entsprechend instrumentalisiert. Dies hatte die paradoxe Folge, dass eben dieser Teil Kurdistans, der heute einem Staat am ähnlichsten ist und sich aus diesem Grund als am unabhängigsten betrachtet, komplett dem Kalkül der globalen Mächte unterworfen war, als die Jesiden in Sengal angegriffen wurden. Die staatsorientierte Ideologie basiert auf Prinzipien wie Macht, Gewalt und Kollaboration, sie kommen in jeder staatlichen Politik zwangsweise zur Anwendung. In einem Staatensystem ist es unmöglich von Unabhängigkeit in einem bedeutsamen Sinne zu sprechen – vor allem im Nahen Osten mit der Fülle der widerstreitenden Interessen. Und so waren es nicht die Anhänger jenes einem Staat am ähnlichsten Kurdistans, die so Vielen auf Flucht vor den Dschihadisten das Leben retteten, sondern jene, die die Institution Staat ablehnen. Die Ereignisse zeigen, dass das Dogma des Nationalstaates auf leeren Behauptungen beruht und die Menschen in einem Modus der Abhängigkeit verharren lässt. Eine Alternative muss her.
Die Region scheint sich ihrer blutigen Kernschmelze zu nähern. Siehst Du für die Menschen eine Hoffnung auf Befreiung aus der sich seit Jahrzehnten zuspitzenden Situation?
Die Frauen und Männer, die sich zurzeit Schlachten mit dem IS liefern, tun das aus Hoffnung, anders könnten sie es nicht. Ich sehe die Hoffnung in Rojava. Inmitten des syrischen Bürgerkriegs hat die Bevölkerung hier, die nicht nur aus KurdInnen, sondern auch aus AssyrerInnen, AraberInnen, ArmenierInnen und anderen Bevölkerungsgruppen besteht, trotz ständiger Attacken seitens des Assad-Regimes und radikaler Islamisten wie dem IS progressive Selbstverwaltungsstrukturen aufgebaut. Obwohl Rojava seit 2012 von allen Seiten ausgegrenzt und angegriffen wird, hat die Bevölkerung im Januar 2014 drei autonome Kantone ausgerufen. Diese bestehen jeweils aus 22 Ministerien, mit je einem MinisterIn und drei Stellvertretenden – je als RepräsentantIn der kurdischen, arabischen und assyrischen Bevölkerungsgruppe, wobei mindestens eine Person eine Frau sein muss. Jeder Kanton hat zwei Kovorsitzende, je eine Frau und ein Mann. Das gleiche Prinzip wird auf allen administrativen Stufen durchgesetzt, genauso wie die gleiche Verteilung zwischen Frauen und Männern in allen Bereichen der Verwaltung. Trotz politischer und wirtschaftlicher Embargos wurden mehrere Volksräte auf Stadt-, Dorf- und Nachbarschaftsebenen sowie Frauenräte, Frauenakademien, Frauenkooperative und Arbeitskooperative und erstellt. In Rojava sehen wir ein Beispiel für die Möglichkeit, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen sehr wohl zusammenleben können. Damit steht Rojava der hegemonialen Erzählung von der Hoffnungslosigkeit gegenüber religiöser und ethnischer Gewalt im Nahen Osten klar entgegen. Diejenigen, die nun gegen den Islamischen Staat kämpfen, zeigen durch ihre soziale und auf die Emanzipation von Frauen abzielende Revolution, dass eine andere Welt sehr wohl möglich ist.
Interview: Marcus Munzlinger
Ein Kommentar zu «Katastrophe und Hoffnung nach dem Scheitern des Nationalstaates»