Im Zuge der Wirtschaftskrise spitzt sich die Situation in Venezuela zu. Durch den Fall des Ölpreises stehen der Chávez-Regierung immer weniger Mittel für die Sozialprogramme, die ihr gerade in den armen Bevölkerungsschichten Popularität beschert haben, zur Verfügung. In letzter Zeit verschärfen sich die soziale Kämpfe, und auch die Repression nimmt zu. Ein deutliches Beispiel hierfür sind die Morde an Gewerkschaftern in den letzten Monaten. René, Gründungsmitglied des Redaktionskollektivs der libertären Zeitschrift El Libertario, beantwortete unsere Fragen.
Kannst du uns kurz euer Zeitungsprojekt vorstellen?
René: El Libertario ist eine Zeitschrift, die in Venezuela seit 1995 erscheint, bisher gab es 56 Ausgaben. Wir informieren über anarchistische Theorie und Praxis in Lateinamerika und weltweit, außerdem berichten wir über libertäre Ansätze in den hiesigen sozialen Bewegungen. Wir erhalten keine Unterstützung von seiten des Staates oder von anderen Machtinstitutionen, wir wollen das auch nicht. Unser Projekt ist also zu 110% selbstverwaltet. Die Zeitschrift wird von einem Redaktionskollektiv herausgegeben, das ist eine Affinity Group, in die sich Menschen mit libertären Ansichten und Haltungen einbringen können. Wir arbeiten in einem Klima von gegenseitigem Respekt und Undogmatismus. Das zentrale Motiv, das uns vereint, ist, dass wir libertäre oder anarchistische Ideen teilen und eine Gesellschaft anstreben, die auf direkter Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Selbstverwaltung, gegenseitiger Hilfe und freier Assoziation ohne den autoritären Zwang durch Gewalt oder der Gesetze basiert. Mehr Details findet ihr auf unserer Website www.nodo50.org/ellibertario, dort finden sich auch deutschsprachige Texte.
Wie ist die momentane Lage der libertären Bewegung in Venezuela?
René: Die libertäre Bewegung in Venezuela hat insgesamt eine viel kürzere Geschichte als in anderen Teilen der Welt. Das zeigt sich auch darin, dass El Libertario das einzige Sprachrohr der Bewegung ist, dank dem wir als AnarchistInnen eine gewisse Präsenz in Venezuela bekommen haben. Denn obwohl die libertäre Idee und Praxis unter uns nicht vollkommen unbekannt war, fängt man hierzulande erst jetzt an, das Spezifische des Anarchismus besser zu verstehen.
Gibt es denn Schnittstellen zwischen der libertären Bewegung und konkreten sozialen Kämpfen?
René: Die Bemühungen, libertäre Ideen mit konkreten Kämpfen zu verbinden, sind relativ neu. Diese Bemühungen müssen zudem im Rahmen der speziellen Situation in Venezuela betrachtet werden, in der wir uns sowohl vom pseudo-linken Autoritarismus eines Hugo Chávez – der dieses Land seit 1999 regiert – als auch vom pseudo-demokratischen Autoritarismus seiner rechten und sozialdemokratischen Gegner abgrenzen müssen. Die zehn Jahre währende Polarisierung zwischen einer autoritären Regierung und einer autoritären Opposition bedeutete ein enormes Hindernis für unseren Einstieg in konkrete Kämpfe. Diese Kämpfe haben am Ende fast vollständig ihre Autonomie und ihre Eigenheiten verloren, als sie, der politischen Macht- und Wahlkämpfe der um die Kontrolle im Staat kämpfenden Gruppen ausgesetzt, von diesen vereinnahmt wurden. Trotzdem sehen wir mit Freude, dass es in den letzten zwei, drei Jahren immer mehr soziale Kämpfe gibt, die mit der politischen Kontrolle des Autoritarismus zu brechen suchen, was Raum für viel versprechende Verbindungen zwischen kollektiven Protesten und der libertären Bewegung schafft. Über sehr konkrete Beispiele für diese Verbindungen berichten wir in El Libertario seit 2006 oder 2007.
Sind aus dieser Situation heraus libertäre Gewerkschaftsinitiativen erwachsen?
René: In Venezuela erschweren Gesetze und der institutionelle Rahmen die Bildung von libertären Gewerkschaften, wie die, welche in der IAA organisiert sind, ziemlich, denn gewerkschaftliche Aktivität wird hier von einer ganzen Reihe von Kontrollmechanismen beeinflusst. Diese haben bis jetzt jede anarchosyndikalistische Initiative, die die Prinzipien von Selbstverwaltung und direkter Aktion halbwegs konsequent umzusetzen versucht hat, im Keim erstickt. Nichtsdestotrotz haben anarchistische Ideen und Propaganda nicht aufgehört sich, und sei es nur in kleinem Maßstab, unter den konsequentesten GewerkschaftsaktivistInnen zu verbreiten, vor allem in letzter Zeit, wo die arbeiterfeindliche Offensive der Bosse und des Staates sich verschärft.
Wie verhalten sich eigentlich die großen, mehrheitlichen Gewerkschaften in dem Spannungsfeld zwischen Chávez und der Opposition, das du vorher beschrieben hast?
René: Als erstes muss ich klarstellen, dass es in Venezuela keine einzige ”mehrheitliche” Gewerkschaftsorganisation gibt, weil die große Mehrheit der ArbeiterInnen überhaupt nicht organisiert ist. Da sowohl die Regierung als auch die Opposition diese Tatsache vertuschen wollen, ist es schwierig, seriöse Zahlen dazu zu finden, aber ich würde sagen, dass der Organisierungsgrad nicht über 15% liegt. Außerdem wird der geringe Organisierungsgrad noch durch Spaltungen erhöht. Der größte Arbeitgeber ist der Staat und in den Gewerkschaften sind hauptsächlich Staatsbedienstete organisiert, weil die Chávez-Regierung die Gründung von Scheingewerkschaften fördert, um so ihre eigene Macht als Staats-Arbeitgeber auszubauen. Nebenbei bemerkt, haben diese chavistischen Gewerkschaften, die in der Fuerza Bolivariana de Trabajadores (Bolivarianische Arbeitermacht) zusammengeschlossen sind, es trotz der Unterstützung von offizieller Seite und unverhohlenem Betrug zu ihren Gunsten nicht einmal geschafft, eine so große Präsenz in den Betrieben zu entfalten, wie vor 1999 die sozialdemokratische Confederación de Trabajadores de Venezuela (Konföderation der Arbeiter Venezuelas, CTV).
Die sozialdemokratische und rechte Opposition hat nichts anderes als die Regierung gemacht, indem auch sie versucht hat, die ArbeiterInnen für ihre politischen Interessen und im Wahlkampf zu instrumentalisieren. Rein auf die Arbeitswelt bezogene Forderungen haben diese Parteien auf unbestimmte Zeit verschoben. Die alte CTV, die bis in die 1990er Jahre beinahe die Gesamtheit der venezolanischen Gewerkschaftsbewegung repräsentiert hat, ist in den politischen Auseinandersetzungen des letzten Jahrzehnts dermaßen geschwächt worden, dass sie heutzutage nicht einmal das Scheitern der chavistischen Organisierungsversuche für sich nutzen kann. Durch ihre traditionelle Unterordnung unter die politischen Parteien, die zuvor regierten und jetzt die Opposition zu Chávez darstellen, bleibt sie schwach und kann kein eigenes Profil entwickeln.
Siehst du dadurch eine Perspektive für die Entstehung von unabhängigen Basisgewerkschaften?
René: In einem derartigen Klima der Zersetzung dessen, was in Venezuela noch an gewerkschaftlicher Aktivität übrig ist, eröffnen sich tatsächlich Spielräume für das Auftreten eines unabhängigen Syndikalismus. Man kann auch nicht leugnen, dass es dafür bereits Indizien gibt, aber dennoch sind das bisher nur erste Schritte und es ist noch ein weiter Weg, bis wir hier von einer revolutionären syndikalistischen Option, die relativ konsolidiert wäre, reden können.
Ihr habt ja in letzter Zeit in El Libertario von mehreren Morden an Arbeitern in Venezuela berichtet, wie der Fall der Mitsubishi-Arbeiter, die von der Polizei erschossen wurden. Nimmt die Repression gegen Arbeitskämpfe in Venezuela gerade zu?
René: Im angesprochenen Fall wurden zwei Kollegen Ende Januar 2009 von der ”sozialistischen und bolivarianischen” Polizei, die dem chavistischen Governeur im Bundesstaat Anzoátegui untersteht, erschossen. Dieser Fall wird – wie so oft in ähnlichen Situationen – von der staatlichen Propaganda entweder als Ausnahme, die nichts mit der Politik der Regierung zu tun habe, oder als Ergebnis der Provokation und Infiltierung durch Agenten ”der Rechten, des Imperialismus und der CIA”, die das schöne Bild des Chavismus zu beflecken versuchen, dargestellt. Aber, wie wir das ja detailliert in jüngeren Ausgaben des Libertario beschrieben haben, sind solche Fälle die Konsequenz der Anwendung der Strategie, die die aktuelle venezolanische Regierung verfolgt. Getreu ihrer Wurzeln im militaristischen Putsch und einer ideologischen Ausrichtung, die sich der Castro-Diktatur auf Kuba annähert, versucht die Regierung mit Zuckerbrot und Peitsche ein autoritäres Kontrollsystem über die venezolanische Gesellschaft zu errichten, und das hinter der Fassade eines angeblichen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. All das tut die Regierung mit der vollständigen Unterstützung des transnationalen Kapitals, ihres Partners in der Erdölförderung, die von staatlich-privaten Mischkonzernen kontrolliert wird. Gerade jetzt in der Weltwirtschaftskrise hat die Regierung auch in Venezuela und trotz des Ölreichtums immer weniger Mittel, die Bevölkerung mit dem Zuckerbrot ruhig zu stellen. Deshalb kracht mit jeder neuen Maßnahme der ”Knüppel des Volkes”, den Bakunin als unvermeidbares Werkzeug aller autoritären Linken vorhergesehen hat, auf die Unterdrückten ein.
Wie schätzt du die Zukunft und die Perspektiven für soziale Bewegungen und Arbeitskämpfe in Venezuela ein, gerade unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise?
René: An dieser Stelle würde ich gerne ein paar Absätze aus dem Editorial des El Libertario # 56 zitieren:
”[…] Die Krise wird die Auseinandersetzungen zwischen den Mächtigen in den Hintergrund treten lassen, weil diese ihre Interessen miteinander vereinbaren werden, damit die Auswirkungen von unten bezahlt werden. Das Verblassen des polarisierenden Spektakels zwischen Regierung und Opposition wird uns Unterdrückten die Möglichkeit eröffnen, uns selbst im Kampf für unsere Rechte wieder zu finden, ohne dass der Kampf durch die selbst ernannten Stellvertreter, die wir im Fernsehen sehen, vereinnahmt wird. Dadurch werden wieder die wirklichen Interessengensätze und Trennlinien in der Gesellschaft deutlich werden. Entweder ergreift man Partei für Regierende, Bosse und Privilegierte oder für diejenigen, die alles zu gewinnen haben. In diesem Kontext wird die Regierung mit aggressiven Vorstößen versuchen, Kontrollmechanismen auszubauen und ihre Machtkonzentration zu erhöhen. Durch die Ausnutzung der Unsicherheit und des Zweifels, die durch das Debakel der Weltwirtschaft ausgelöst wurden, gibt der Vorwand der Krise ihr eine einmalige Gelegenheit, mit autoritären und regressiven Maßnahmen soziale, politische und Arbeitsrechte zurück zu drängen. Dennoch bietet dieser Vorstoß auch eine Chance für eine wirkliche und tiefgreifende Veränderung unserer Gesellschaft. Zu einer Gesellschaft hin, in der wir auf überflüssige Führer verzichten, und nach und nach eine breite, unabhängige, kämpferische und allgemeine soziale Bewegung aufbauen können, die sich von allen Parteien und anderen Machtinstrumenten abgrenzt. Indem wir die pseudo-revolutionären Betrügereien, die von der Chávez-Regierung eingeführt wurden, eine nach der anderen abschaffen und uns gleichzeitig den Einfluss und die Praxis der alten politischen Parteien entgegen stellen. Indem wir all die Faktoren überwinden, die unsere individuelle und kollektive Entwicklung ausbremsen, und indem wir Ideen entwickeln, und zwar nicht, um die Macht zu ergreifen, sondern damit diese sich im sozialen Geflecht auflöst. Indem wir Erfahrungen verbreiten und Initiativen bekannt machen, mit denen wir hier und heute eine andere Kultur aufbauen können. Indem wir horizontale und zwanglose Verbindungen und Brücken zwischen allen kämpfenden Bevölkerungsgruppen schlagen”
Vielen Dank für das Interview
Interview: Daniel Colm