Der Frühling in Frankreich war heiß: die Nachrichten über Streiks in Großstädten und in der Provinz, in großen wie kleinen Unternehmen reißen nicht ab. Brennende Reifen vor Fabriken von Continental und Michelin, fast so wie beim Aufstand in Argentinien 2001. Fabrikbesetzungen breiten sich beinahe aus wie ein Lauffeuer, begleitet von dutzenden Beispielen des sog. „Bossnapping“, also der Festsetzung einzelner Bosse. Andernorts drohen kämpfende ArbeiterInnen damit, Waren und Maschinen zu vernichten. Die bislang vier gewerkschaftlichen Aktionstage genügen der Wut der ArbeiterInnen aber nicht mehr.
Wir sind jetzt keine Schafe mehr, sondern Löwen!
Bei der bisher letzten, landesweiten Mobilisierung der Zentralgewerkschaften Mitte Juni brachen die Teilnehmerzahlen um 90 bis 95% ein. Seither ist es ruhig geworden um die Gewerkschaftsallianz, aber von allgemeiner Ruhe an der sozialen Front kann indes keine Rede sein. Eine Mischung aus Absatzkrise und Überproduktion, Kreditklemme und ganz normaler Restrukturierung heizt die Auseinandersetzungen an. Damit kommt Bewegung in die Privatwirtschaft, denn selbstverständlich wehren sich die Betroffenen. Der CGT-Delegierte bei Continental prägte dafür das Bonmot „Wir sind jetzt keine Schafe mehr, sondern Löwen!“
Die erste Festsetzung eines Bosses ziehen die ArbeiterInnen des Auto-Zulieferers Fulmen Ende Januar durch: sie laden ihren Direktor zur Teilnahme an einer Gewerkschaftsdemo ein. Dieser hatte auf einer Versammlung gesagt, er sei – angesichts der Entlassungen – mit ihnen. Und da nahmen sie ihn beim Wort. Eine durch und durch symbolische Aktion also. Bis Mitte August hat sie aber ein Dutzend Nachahmer gefunden, die ihr Gewicht in Verhandlungen so erhöhen wollen. Denn selten sind Fälle wie jener der 350 Entlassenen des Chemie-Konzerns Celanese, die im April 70.000 Euro Abfindung erhalten – und zwar ohne Auseinandersetzungen. Viel gängiger ist der Versuch, ArbeiterInnen mit der gesetzlichen Mindestabfindung abspeisen will, die z.B. nach fünf Jahren Betriebszugehörigkeit einem ganzen Monatsgehalt entsprechen. Kein sehr beruhigendes Trostpflaster angesichts einer Erwerbslosenrate, die im ersten Quartal so schnell gestiegen ist wie seit 1970 nicht mehr. So sieht denn auch der Soziologe Norbert Alter „die Gewalt [als] eine Antwort auf die Verachtung“ seitens der Unternehmensleitungen.
Kein Streik ohne Spektakel
Die radikalen Aktionen bieten vor allem eines: spektakuläre Bilder für die Medien. Die ArbeiterInnnen wissen sehr genau, dass sie einen Psychokrieg an der Front der „öffentlichen Meinung“ führen. Und die Aktionen zeigen Wirkung. Beispiel New Fabris, Auto-Zulieferer: 360 ArbeiterInnen sollen entlassen werden. Das Gros der Aufmerksamkeit erlangten sie in den Medien mit der Drohung, die Fabrik in die Luft zu sprengen. Oberste Staatsmänner wiesen diese proletarische „Gewalt“ zwar zurück, wagten es aber nicht, Polizei einzusetzen. Die ArbeiterInnen erstritten rund 30.000 Euro Abfindung, sie haben das Unternehmen zur Verdopplung gezwungen. Bereits Anfang Juni konnten die Continental-ArbeiterInnen 50.000 Euro zusätzlich und netto einstecken. Diese Zahlen werden zum Ansporn.
Sicher, diese diffuse „Bewegung“ beschränkt sich bisher auf das produzierende Gewerbe. Von daher ist sie nicht mit einem allgemeinen Aufbegehren gegen die kapitalistische Krise zu verwechseln. Dennoch kann sie ein Leuchtfeuer sein, denn die Aktionen finden in der Privatwirtschaft und in mittelgroßen Betrieben statt, nicht im gewerkschaftlich stärker organisierten öffentlichen Sektor. Vielleicht bilden diese ArbeiterInnen, die nun in alle Winde zerstreut werden, künftig woanders den handgreiflichen Beweis dafür, dass kämpfen möglich ist. Damit könnten sie das hergebrachte Streikverständnis jenseits des Rheins gehörig durcheinander bringen: Heutzutage ist ein Streik die normale Form der Meinungsäußerung von Lohnabhängigen. Wo Gewerkschaften in Deutschland eine Kundgebung veranstalten, rufen sie in Frankreich zum Streik auf. Damit gerät aber auch der ökonomische Druck aus dem Blick, der Streik gerät zum Spektakel.
Die Rückkehr des revolutionären Syndikalismus?
Vor diesem Hintergrund erkennen manche Beobachter in den verschärften Auseinandersetzungen mit Massenbeteiligung eine Rückkehr anarchosyndikalistischer Methoden. Keine Frage: Zu kämpfen verstehen die ArbeiterInnen in Frankreich, ungeachtet der Gewerkschaft, der sie angehören. Das Arsenal im Arbeitskampf reicht von Demonstrationen und Petitionen, über Streiks und Besetzungen bis hin zu Blitzaktionen und planmäßiger Sabotage. Letztere kam zuletzt massenhaft im Arbeiterkampf bei EDF/GDF zur Anwendung (siehe Anmerkungen).
Der ehemalige Premierminister Villepin spricht im April sogar vom „Risiko einer Revolution“, zweifelsohne in bewusster Übertreibung. Sarkozy verwies indes seit Oktober auf die Härte und Tiefe der Krise: Die Zeit für Einschnitte sei gekommen. Seit den gewerkschaftlichen Aktionstagen werden nun die Konjunkturprogramme, in erster Linie Infrastrukturprogramme, mit sozialstaatlicher Rhetorik geschmückt. Denn wenn auch eine Revolution nicht auf der Tagesordnung steht, so ist die Regierung doch realistisch: „Das Risiko für Frankreich ist […] das einer sozialen Explosion“, sagte ein Berater Sarkozys – Mitte Juli!
Aktuell: Sackgasse als letzter Ausweg
Das Bild einer „Explosion“ ist recht treffend, die Bossnappings der ersten Stunde waren zwar im Voraus geplant, aber andere „radikale Aktionen“, wie die Erstürmung der Unterpräfektur von Compiègne, entstehen aus der Situation heraus. Spontane Wut und gefühlte Ausweglosigkeit treiben die Beschäftigten voran – die Gewerkschaften folgen nach.
Diese Spontaneität macht sich aber weniger Luft in Angriffen auf staatliche Stellen als vielmehr in Blitz-Bossnappings anlässlich „normaler“ Verhandlungsrunden. Die Beschäftigten drängen als Akteure auf die Bühne. Gleichzeitig wirkt die angekündigte Fabrikschließung offensichtlich wie ein Betäubungsmittel – das Kollektiv zum Tode verurteilt, das Firmengelände (scheinbar) nicht mehr von Bedeutung. So halten sich die ArbeiterInnen an das Greifbare, den Chef in seiner schlichten Körperlichkeit. Eine Grenzüberschreitung, die von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wird und die sich auszahlt. Mehr aber auch nicht, denn die ArbeiterInnen haben kein klares Ziel, kein Projekt, das über den Arbeitsplatz bzw. die Abfindung hinausginge. In den meisten Fällen steht nicht einmal die Ausweitung des Kampfes, geschweige denn die Übernahme des Betriebs zur Debatte. So kämpft man mit dem Rücken zur Wand.
Wie weit die soziale Revolution noch entfernt liegt, erkennt man auch daran, dass während der Strom-Sabotage in Cannes allein die Luxushotels noch erleuchtet waren – denn die haben Generatoren im Keller stehen. Erst wenn eines Tages auch bei ihnen das Licht ausgeht, weil die Gewerkschaftsmitglieder im Haus wissen, wo der Generator steht, dann können wir ernsthaft drüber reden, ob die gesellschaftliche Umwälzung vor der Türe steht.
André Eisenstein, STICS 13 CNT, Marseille
Anmerkungen:
Die Justiz hält sich zurück bei Arbeitskämpfen, glücklicherweise: Wegen der Stürmung der Unterpräfektur von Compiègne durch 200 Streikende des Continental-Werks in Clairox, standen Mitte Juli 7 ArbeiterInnen vor Gericht. Der Staatsanwalt beantragte Bewährungsstrafen – damit sind langjährige Gefängnisstrafen und hohe Geldbußen vom Tisch. Das Urteil soll Anfang September fallen.
Anders bei Gewerkschaftsmobilisierungen auf der Straße: Am 29. Januar war es in St.-Nazaire zu Straßenschlachten gekommen, als die „Ordnungskräfte“ angriffen. Mehrere Leute wurden festgenommen und saßen teils 3 Monate in Untersuchungshaft. Hier verknackte das Gericht die Betroffenen zu mehrmonatigen Haftstrafen – die der Revision aber teils nicht standhielten.
Die hierzulande vergessene Sabotage erfreut sich in Frankreich anhaltenden Zuspruchs unter Streikenden: Im April und Mai unterbrachen ArbeiterInnen von EDF-Tochterfirmen immer wieder die Strom- und Gasversorgung, sowohl im Pariser Raum und Nordfrankreich als auch beim Film-Festival in Cannes. Dabei waren u.a. zehntausende Haushalte ohne Strom bzw. Gas, aber auch Krankenhäuser waren von der Aktion betroffen. Dieser Fauxpas rief unter Belegschaften des Gesundheitswesens starke Kritik hervor.