Als im Jahr 2006 der Landtag von Baden-Württemberg den Grundsatzbeschluss fällte, den Stuttgarter Hauptbahnhof unter die Erde zu bringen, war es noch ruhig im Ländle. Und so blieb es bis ins Jahr 2009, als sich die Projektpartner Bund, Land, Bahn und Stadt über die Finanzierung einigten und die definitive Umsetzung des Projekts Stuttgart 21 anschoben.
Das brachte die GegnerInnen auf den Plan: Zunächst waren es wenige, die ihre Montagsdemos vor dem Bahnhof abhielten. Ausgehend von der ökologisch-bürgerlichen Mitte breitete sich die Protestbewegung von links-revolutionären Gruppen bis in das konservativ-schwarze Lager aus. Mittlerweile finden sich zu Demonstrationen bis zu 40.000 Menschen ein. So widersprüchlich das Spektrum, so vielfältig die Kritikpunkte und Forderungen. Was sie eint, ist die Forderung nach Beibehaltung des Kopfbahnhofs und mehr Basisdemokratie. Hierfür besetzen sie mittlerweile Gleise und stellen sich Polizeipferden in den Weg.
Doch was ist eigentlich so schlimm an Stuttgart 21? Zunächst wie es beschlossen wurde: Über die Köpfe der Menschen hinweg. Begründet wird dies mit dem Recht der Entscheidungsträger in der parlamentarischen Demokratie. Hier steht S21 exemplarisch für eine generelle Kritik. Auch die Verquickung von Politik und Wirtschaft ist beispielhaft: Der Erste Bürgermeister war bis zum 9. August 2010 im Beirat der Baufirma, die den Abbruch durchführt. In seiner Rücktrittserklärung bedauerte er seine mangelnde „politische Sensibilität“.
Es sind aber auch die entstehenden Kosten: Im kommunalen Bereich gibt es aufgrund der knappen Haushalte Kürzungen. So müssen die städtischen Jugendhäuser ihr Angebot reduzieren. In einzelnen wird gar daran gedacht, von den Kindern Geld für ein Glas Leitungswasser zu verlangen. Andere Jugendhäuser wurden schon geschlossen. Die Kosten für S21 stellen aber offensichtlich kein Problem dar – auch wenn sie sich mittlerweile nahezu verdoppelten: Von 2,8 Mrd. auf nun mindestens 4,6 Mrd. Euro, Stand August 2010. Eine andere Studie geht von bis zu 11 Mrd. Euro aus.
Es steht zu befürchten, dass dies auf Kosten der ArbeiterInnen geht. Mit der ab Mai 2011 uneingeschränkt geltenden Freizügigkeitsregelung können Leiharbeitsfirmen Menschen innerhalb der EU verkaufen – zu den im Heimatland üblichen Löhnen. Die unmenschliche Praxis der Leiharbeit ist damit auf einem neuen moralischen Tiefpunkt angelangt. S21 wird die größte Baustelle Europas und somit der größte Nutznießer dieser Regelung sein. Nicht zu vergessen, dass Kostendruck zu Arbeitsunfällen führt. Wir wollen am jährlichen „Workers Memorial Day“ keine Opfer der Mega-Baustelle betrauern müssen.
Ein vielbemühtes Argument für die Tieferlegung des Bahnhofs ist die Schaffung neuer Wohnflächen in der Innenstadt. Die Gleise, die bisher die Stadt zerschneiden und der von vielen als hässlich empfundene Bahnhof würden Parkanlagen und Wohnungen weichen. Aber wer soll sich die Wohnungen leisten können? Stuttgart belegte beim Mietpreisranking 2010 den fünften Platz deutschlandweit. Bei durchschnittlich 4300 Euro pro m² dürfte der Neubau in der Innenstadt die Mietpreise im gesamten Stadtgebiet erhöhen und das Stadtzentrum endgültig gentrifizieren.
Der Protest hat in der Region eine ungeheure Kraft entwickelt, die selbst gemäßigte Bürger zu zivilem Ungehorsam treibt und sie diese Grenze sogar überschreiten lässt. Am Tag des Abrisses legten einige tausend DemonstrantInnen die gesamte Innenstadt lahm: Es wurden Barrikaden auf Bundesstraßen errichtet, wichtige Kreuzungen blockiert und Polizeiabsperrungen überwunden. Bei einer der größten Demonstrationen durchbrachen am 27. August Tausende die Bannmeile des Landtags. Mittlerweile gibt es vom sichtlich beeindruckten Bahnchef Grube ein Gesprächsangebot. Es wird sich zeigen, ob dieses Angebot ernst gemeint ist oder nur dem Zeitgewinn dient. Die FAU Stuttgart wird sich innerhalb der Proteste jedenfalls weiter einbringen und auf die sozialen und arbeitsrelevanten Probleme durch S21 hinweisen.
Steffen Barkling, FAU Stuttgart