Der Erste Mai war dieses Jahr nicht nur der „Kampftag der ArbeiterInnen“, er soll auch der „Tag der Whistleblower“ gewesen sein. Das verkündete zumindest das Whistleblower-Netzwerk, das erstmals auf der zentralen DGB-Kundgebung in Berlin vertreten war. In anderen Ländern ist der Begriff „Whistleblowing“ längst in den alltäglichen Sprachgebrauch eingezogen, während er hierzulande noch vielen unbekannt ist. Erst seit den späten 1990ern gibt es zaghafte Bemühungen, den Begriff auch in die deutsche Diskussion einzuführen. Whistleblowing, was in etwa „Alarmschlagen“ bedeutet, hat seinen Ursprung in den USA und bezeichnet den Umstand, dass im Arbeitsumfeld oder Wirkungskreis einer Person gravierendes Fehlverhalten, schwerwiegende Missstände oder Fehlentwicklungen aufgedeckt werden. Eine der berühmtesten Schößlinge des Whistleblowing-Trends ist die Internetseite WikiLeaks, die in letzter Zeit vermehrt für politische Skandale, Enthüllungen und Überraschungen sorgte. Doch Whistleblowing ist ein umkämpftes Terrain und nicht immer so sympathisch, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Kriterien des Whistleblowing
In einer Veröffentlichung über Zivilcourage nennen die Autoren Gerd Meyer und Ulrich Dovermann vier Kriterien, über die sich Whistleblowing bestimme. Dazu zählt zunächst einmal das Erkennen einer Fehlentwicklung (revealing wrongdoing). Insbesondere gemeint sind damit „erhebliche Gefahren oder Risiken für Leben, Gesundheit, die nachhaltige Sicherung und Entwicklung der Ökosysteme oder das friedliche Zusammenleben“. Anschließend folgt das going outside. Dabei wird häufig zwischen einer externen und internen Öffentlichkeit, an die man sich wendet, unterschieden – das ist Resultat einer Debatte, in der beunruhigte Unternehmen dafür plädierten, Whistleblowing doch zunächst einmal auf die Betriebsöffentlichkeit begrenzt zu halten. Drittens müsse die Handlung, etwas öffentlich zu machen, durch das Motiv begründet sein, dass man dem öffentlichen Interesse diene (serving the public interest). Es sollten also uneigennützige Gründe vorliegen, die an einem undefinierten Allgemeinwohl orientiert sind. Letztlich gibt es noch das Risiko einer Vergeltung (risking retaliation), dem sich ein Whistleblower durch seine Handlung aussetze.
Das revealing wrongdoing, von wo aus das Whistleblowing seinen Lauf nimmt, bleibt jedoch der Knackpunkt der Angelegenheit, hängt deren Charakter doch maßgeblich von der Art der Fehlentwicklung ab, die es zu skandalisieren gilt. Dabei findet das Whistleblowing häufig seinen Ursprung in einem bürgerrechtlichen und zivilcouragierten Background, aus dem sich nicht selten eine Tendenz herauslesen lässt, Skandale in den oberen Hierarchien aufzudecken. Stellenweise mag dies ein Misstrauen gegen Autoritäten und öffentliche Akteure implizieren, eine feste Komponente des Whistleblowing war und ist dies jedoch noch lange nicht.
Zwischen Recht und Unternehmenspolitik
Während also anfänglich oft korrupte Methoden und Handlungen etwa von Geheimdiensten oder PolitikerInnen skandalisiert wurden, steht Whistleblowing in der Arbeitswelt unter ganz anderen Vorzeichen, wenn etwa Angehörige eines Unternehmens Interna öffentlich machen wollen. Der Grundsatz, dass dissidentes Verhalten aus Gewissensgründen zulässig sei, wird – wie in der bundesdeutschen Auseinandersetzung – zur Farce, wenn eine Ethik propagiert wird, die das Gewissen in den Dienst von Wirtschaftsinteressen stellt und Menschen unter der Prämisse der Loyalität zu Handlangern verurteilt.
Schon in den USA wurde der Weg dafür geebnet, Whistleblowing im Sinne der Unternehmensloyalität zu interpretieren und in kontrollierbare Bahnen zu lenken. So wurde zwar durch den Sarbanes-Oxley-Act 2002 die Einführung eines Hinweisgebersystems beschlossen, das für alle an den US-Börsen gelisteten Unternehmen und deren Tochtergesellschaften (auch die in Europa) gilt. Doch die Kontroverse um diese Whistleblowing-Hotlines, die mittlerweile auch in Deutschland geführt wird, hatte als Kernpunkt zum Ergebnis, dass mit Whistleblowing-Enthüllungen zuallererst nur firmenintern umgegangen werden und die „externe“ Öffentlichkeit ausgeschlossen bleiben soll.
In Deutschland etwa kam es bisher lediglich zu parlamentarischen Anhörungen über einem möglichen § 612 im BGB, der den Whistleblower-Schutz für ArbeitnehmerInnen sichern soll. Das Whistleblower-Netzwerk kritisiert den Entwurf als unzureichend, während der BDA diesen als zu weitgehend ablehnt. Vorschläge, wie dass eine sofortige Anzeige oder externe Öffentlichmachung möglich sein sollen, wenn der Whistleblower keine Chance sieht, im Unternehmen selbst etwas zu bewirken, werden i.d.R. heftig kritisiert. Empfehlungen entsprechender Lobbygruppen, wie etwa des „Düsseldorfer Kreises“ und seiner Ad-hoc-Arbeitsgruppe „Beschäftigtendatenschutz“, tendieren meist dazu, anonyme Anzeigen nur in Ausnahmen anerkennen zu wollen.
Whistle with the bosses
In Deutschland ist der Faktor des risking retaliation für ArbeiterInnen besonders hoch. 2009 traten immerhin Gesetze für Beamte in Kraft, die nun auch bei Korruptionsstraftaten ihre Verschwiegenheit ablegen und diese Fälle zur Anzeige bringen dürfen, was vorher nur bei besonders schweren Verbrechen möglich war. Doch im Allgemeinen ist das Betriebsgeheimnis, dessen Missachtung Kündigungen und andere Konsequenzen nach sich ziehen kann, nach wie vor eine Mauer der Tabuisierung von Betriebsalltag. Zwar urteilte 2001 das Bundesverfassungsgericht, dass es möglich sei, seinen „Arbeitgeber“ anzuzeigen, jedoch müsse geklärt sein, dass man diesem dadurch nicht schaden wolle und die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt sei. Diese potentielle Möglichkeit wird somit wieder in die rechtliche Grauzone verschoben.
Dabei ist zu beobachten, dass sich die Unternehmen zunehmend das Thema angeeignet haben. Mit wirtschaftsethischen Schlagworten führen sie die Diskussion an und prägen dabei maßgeblich das Bild vom Whistleblowing. Dabei werden beiläufig auch sozialethische Prinzipien angesprochen, wie etwa Gewalt und Mobbing im Betrieb als zu bekämpfende Phänomene, wirkt sich derlei doch auch auf die Arbeitsleistung aus. Die eigentlichen Vorteile für die Unternehmensseite liegen jedoch in der schleichenden Etablierung eines Disziplinierungssystems, getarnt als Meldesystem für betriebswirtschaftliche und ethische Verstöße. Die Koordinaten für das Melden drohen dabei zu verwässern, wenn es als Unternehmens- und nicht als zivile Kultur in den Alltag eindringt.
Unter der Lupe
In der deutschen Debatte geht es i.d.R. nicht mehr um investigatives oder zivilcouragiertes Handeln. Hier steht im Vordergrund, wie Whistleblowing auf Unternehmensebene reglementiert werden kann, und zwar unter der deutlichen Maßgabe, die Betriebe vor Schaden zu schützen. Das revealing wrongdoing ist dabei keine moralische Frage, sondern soll den von den Unternehmen selbst formulierten ethischen Kodizes folgen. Dass der Betrieb überhaupt funktioniert und keinen Schaden nimmt, wird hier schnell zu einer Sache des öffentlichen Interesses umgedeutet. Dementsprechend stellt die „Business Keeper AG“, die ein Whistleblower-Meldesystem für Unternehmen entwickelt hat, zur rechtlichen Auslegung fest: „Das zu erfassende Verhalten muss einen deutlichen Arbeitsbezug aufweisen. Gesetzeseinhaltung von Mitarbeitern und deren Überwachung dienen dem arbeitsvertraglichen Zweck, nämlich dem geordneten und wirtschaftlich erfolgreichen Ablauf des Wertschöpfungsprozesses.“ Mit anderen Worten: Alles, was das „erfolgreiche“ Geschäft nicht direkt stört, ist primär keine Fehlentwicklung.
Der Fehler liegt derweil nicht beim Konzept des Whistleblowing an sich. Die rechtlich und gesellschaftlich von den Unternehmern geprägte Diskussion hat ihm seinen momentanen Charakter verliehen. Dass gerade diejenigen die firmeninterne Whistle-Politik vorantreiben, die typischerweise im Fokus von z.B. Korruption stehen, nämlich die Vorstände, weist daraufhin, dass sie sich die Debatte erfolgreich angeeignet haben. Die Schauplätze für Skandale und Vergehen werden so in die unteren Ränge verlegt, wo jeder und jede um einen Platz im Unternehmen kämpft. Dass die gravierenden Verstöße zumeist aufgrund persönlicher Bereicherung ranghoher Akteure oder Unternehmenskalkül entstehen, bleibt eher nebensächlich.
Es wäre einfältig, zu glauben, die jetzige Whistleblowing-Interpretation würde Unternehmen, die Gesetzes- oder Ethikverstöße für lukrative Geschäfte in Kauf nehmen, irgendwie beeinträchtigten. Die Diskussion um die rein firmeninternen Meldesysteme ist nichts weiter als eine Scheindebatte, und die Zielgruppe des Misstrauens ist klar: die ArbeiterInnen. Auch die Diskussion um die Bagatellkündigungsdelikte drehte sich um ein phantasiertes Vertrauensverhältnis zwischen Bossen und ArbeiterInnen, wobei Letztere stets in der Bringschuld seien, den „Arbeitgebern“ ihre Treue zu beweisen. Um eine ähnliche Deutungshoheit geht es auch beim Whistleblowing.
Syndikalistisches Tagesgeschäft
Die vier Kriterien des Whistleblowing sind ein Spielball, und GewerkschafterInnen täten gut daran, eine klassenorientierte Deutung ins Spiel zu bringen. Denn was Whistleblowing letztendlich ausmacht, ist die Kultur und der soziale Kontext, in dem es sich bewegt, zu wessen Gunsten und zu wessen Schaden es eingesetzt wird. Eine Institutionalisierung durch Meldesysteme und Paragraphen kann nicht Ziel gewerkschaftlicher Arbeit sein. Vielmehr müssen alltägliche Verstöße wie etwa im Arbeitsrecht auch weiterhin als Klassengegensätze verstanden werden. Das „Alarmschlagen“ im gewerkschaftlichen Kampf kann sich nicht an firmeninterne Systeme richten, denn als Teil der Unternehmenspolitik ist es nur ein weiteres Standbein der Individualisierung von ArbeiterInnen. Whistleblowing als Teil gewerkschaftlicher Arbeit bietet dagegen Möglichkeiten kollektiver Organisierung und Aktion.
Aus syndikalistischer Sicht dient das Alarmschlagen einer Delegitimierung von Autoritäten, der Skandalisierung schlechter Arbeitsverhältnisse und der alltäglichen Ausbeutungspraxis. Insofern ist Whistleblowing im Syndikalismus seit jeher Tagesgeschäft. Das revealing wrongdoing ist hier identisch mit dem Erkennen eigener Interessen, während die Herstellung von Öffentlichkeit und deren Empörung als Druckpotentiale dienen. Whistleblowing ist somit auch eine flankierende Kampfform in Konflikten. Doch wo in konkreten Fällen die Entrüstung und damit die Solidareffekte ausbleiben, können – wenn sich z.B. der „Arbeitgeber“ aufgrund ausbleibenden öffentlichen Drucks bestärkt sieht – auch die Druckpotentiale sinken. Einen Arbeitskampf öffentlich zu führen, kann somit Chance und Verhängnis zugleich sein. Daher muss das gewerkschaftliche Whistleblowing stets darauf abzielen, vermeintliche Einzelfälle als Teil des Klassenwiderspruchs erkennbar zu machen. Denn dieser ist immer eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse.
Sebastien Nekyia