Die Schweiz ist ein streikarmes Land, ein Land des „Arbeitsfriedens“. Streiks sind so selten, dass viele Leute glauben, in der Schweiz sei der Streik gesetzlich verboten. Obwohl dies nicht zutrifft, läuft es – zusammen mit dem fehlenden Kündigungsschutz für gewerkschaftliche AktivistInnen – faktisch fast darauf hinaus. Das zeigen die beiden jüngsten Beispiele im Krankenhaus La Providence in Neuenburg und bei SPAR in Dättwil, wo die Streikenden fristlos entlassen wurden. Es laufen zwar Gerichtsverfahren wegen missbräuchlicher Kündigung, die jedoch an den Tatsachen nichts zu ändern vermögen. Die Botschaft der Unternehmer an ihre Lohnsklaven ist eindeutig: Wer in der Schweiz streikt, wird fristlos entlassen! Auf diese Weise soll der „Arbeitsfrieden“ wieder bedingungslos durchgesetzt werden. Wenn zwischen zwei feindlichen Heeren ein Waffenstillstand geschlossen wird, so stehen sich die beiden Heere weiterhin als Feinde gegenüber. Wenn stattdessen ein „Friedensabkommen“ getroffen wird, so betrachten sich die Feinde nicht mehr als solche und werden zu „Partnern“ – aus Klassenfeinden werden Sozialpartner. Dies kann aus der Einsicht erfolgen, dass beide Heere ungefähr gleich stark sind und daher keines in der Lage ist, das andere zu besiegen. Oft erfolgt der Friedensschluss allerdings aufgrund der bedingungslosen Kapitulation des besiegten Heeres. Es ist psychologisch leicht nachvollziehbar, dass in diesem Fall die meisten der Unterlegenen, um ihr Sklavendasein als weniger drückend zu empfinden, irgendwann beginnen, sich mit den Interessen ihrer Herren zu identifizieren. Daraus entwickelt sich jene „Politik des kleineren Übels“, die es so meisterhaft versteht, Niederlagen in Siege umzudeuten.
Die Niederlage von 1918 als Fundament des „Arbeitsfriedens“
Beispielhaft für eine solche Entwicklung ist die Entstehung des „Arbeitsfriedens“ in der Schweiz, als dessen Beginn der Abschluss des „Friedensabkommens“ in der Maschinen- und Metallindustrie im Jahre 1937 gilt. Das Abkommen, das keinerlei Regelung der Löhne und Arbeitsverhältnisse beinhaltete, verpflichtete die Vertragsparteien, auf jegliche Kampfmaßnahmen wie Streik oder Aussperrung zu verzichten. Von besonderer Bedeutung ist die Verpflichtung der Vertragsparteien, „ihre Mitglieder zur Beachtung der Bestimmungen dieser Vereinbarung anzuhalten, widrigenfalls die schuldige Partei vertragsbrüchig wird“. Damit verpflichtete sich die Gewerkschaft nicht nur zum Verzicht auf Kampfmaßnahmen, sondern überdies – im Sinne einer „Kontrollfunktion“ – aktiv für die Einhaltung des Arbeitsfriedens zu sorgen.
Schaut man genauer hin, war dieses „Friedensabkommen“ nur die konsequente Fortführung einer Gewerkschaftspolitik, die bereits kurz nach dem gescheiterten Landesstreik im November 1918 begann. Damals hatte sich die Streikleitung dem Ultimatum der Landesregierung gebeugt und den Streik bedingungslos beendet. Ihre Kapitulation rechtfertigte sie wie folgt: Die Arbeiterschaft sei der Macht der Bajonette erlegen. Um den Streik fortführen zu können, hätte die Arbeiterschaft „über gleichwertige Waffen verfügen müssen wie das verbrecherisch auf sie gehetzte Heer. Diese Gleichheit bestand nicht. Die Massen wehrlos den Maschinengewehren der Gegner ausliefern, das konnten und durften wir nicht.“ Den Machtkampf Klasse gegen Klasse hatte die Arbeiterschaft im November 1918 verloren. Lokale Generalstreiks im Jahr 1919 in Zürich und Basel, wo jene Kräfte, die sich mit der Niederlage nicht abfinden wollten, besonders stark waren, wurden vom Staat brutal niedergeschlagen. Für alle andern begann schon sehr bald die Politik der Anpassung und Unterordnung unter die Interessen der Unternehmer.
Auf dem Weg zur „Sozialpartnerschaft“
Vorreiter dieser „Strategie“ war der Schweizerische Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV), der das „Friedensabkommen“ von 1937 unterzeichnete. Sie blieb aber keineswegs auf diese Gewerkschaft beschränkt: Bereits 1927, als das neue Beamtengesetz ein Streikverbot für das Bundespersonal enthielt, stellte sich der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) hinter das Gesetz. Im gleichen Jahr strich der SGB-Kongress die Bezugnahme auf den proletarischen Klassenkampf aus seinen Statuten und schloss das Basler Gewerkschaftskartell wegen dessen klassenkämpferischer Haltung aus dem SGB aus. Somit lässt sich feststellen, dass der „soziale Frieden“ in der Schweiz mit der gewaltsamen Unterdrückung des Arbeiterprotests in den Jahren des Landesstreiks begann, einer Zeit größter wirtschaftlicher Not, und nicht etwa auf dem relativen Wohlstand der wirtschaftlichen Aufschwungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte. Es war ein „sozialer Frieden“, den die Bourgeoisie mit Waffengewalt der Arbeiterklasse aufgezwungen hatte. Die Unterdrückung einer gesellschaftlichen Klasse durch die andere war seine materielle Grundlage. Bis der „Arbeitsfrieden“ – zumindest vorübergehend – umfassend durchgesetzt wurde, dauerte es mehrere Jahrzehnte. Das Jahr 1961 ist als erstes ohne eine einzige Arbeitsniederlegung in die Statistik eingegangen. Der Zürcher Gipserstreik zwei Jahre später könnte daher als letztes Aufflackern von Widerstandwillen gedeutet werden, aber auch als Abschluss einer Epoche. Denn spätestens ab dann war es der „wilde Streik“, der zum Motor von Arbeitskämpfen wurde.
„Wilde Streiks“ in den 1970er Jahren
Im Juli 1968 traten die siebzig ArbeiterInnen der Kugelschreiberfabrik Penrex im Tessin in den Streik und forderten drei Wochen Ferien. Die streikenden ArbeiterInnen besetzten die Fabrik und bewachten sie rund um die Uhr. Nach einem Monat Streik wurden die Forderungen erfüllt. Im Mai 1970 streikten ebenfalls im Tessin die 150 Arbeiterinnen und Arbeiter einer Bally-Tochter, wiederum vorwiegend Grenzgänger, und verlangten unter anderem einen garantierten Mindestlohn und die Abschaffung des Akkordlohns. Die ArbeiterInnen kümmerten sich weder um den Arbeitsfrieden noch um gewerkschaftliche Vertragspolitik. Sie anerkannten die Betriebskommission nicht und wählten eine eigene Streikleitung. Da der Streik isoliert blieb, konnte die vereinigte Front von Unternehmer und Gewerkschaft nach drei Wochen den Kampf zerschlagen: Sechzig ArbeiterInnen, mehr als ein Drittel der Belegschaft, wurden entlassen, die andern erhielten eine Lohnerhöhung von lediglich fünf Prozent. Einen Monat zuvor, im April 1970, streikten in Genf 200 spanische Bauarbeiter der Firma Murer vier Tage lang erfolgreich für Lohnerhöhungen – gegen den Willen der Gewerkschaft, dafür unterstützt von 4000 ArbeiterInnen und Jugendlichen, die in der Stadt ihre Solidarität demonstrierten. Demgegenüber endete im Juni 1970 der Streik von vierzig spanischen Arbeitern einer Baufirma in Stansstad in der Zentralschweiz, mit einer Niederlage, und die Streikenden wurden von der Fremdenpolizei an die Grenze gestellt.
Den vorläufigen Höhepunkt der Streikbewegung zu Beginn der Siebzigerjahre bildeten die Arbeiterkämpfe in der Genfer Metallindustrie. Am 26. Februar 1971 traten 160 Arbeiter – etwa drei Viertel spanische Emigranten – der Verntissa in Genf (kurz zuvor von Sulzer Winterthur aufgekauft) in den Streik und forderten eine zehnprozentige Lohnerhöhung für alle. Dies, nachdem der SMUV drei Prozent individuell, je nach Arbeitsleistung, ausgehandelt hatte. Als Betriebskommission und Gewerkschaft die Arbeiter zur Wiederaufnahme der Arbeit bewegen wollten, wurden sie ausgepfiffen. Die Arbeiter wählten ein eigenes, multinationales Streikkomitee aus ihren Reihen. Aus Solidarität mit den Verntissa-Arbeitern beschlossen am 2. März 200 von 300 Arbeitern der seit einigen Monaten zum Bührle-Konzern gehörenden Hispano-Oerlikon, ebenfalls in den Streik zu treten. Einen Tag darauf folgten auch die 500 Arbeiter der Ateliers des Charmilles. Als es der Betriebskommission der Sécheron gelang, die Forderungen ohne Streik auszuhandeln und damit einen Solidaritätsstreik der 1400 Arbeiter jenes Betriebes zu verhindern, begann die Streikfront abzubröckeln. Am 5. März unterschrieb ein Mitglied des Streikkomitees bei Charmilles persönlich einen Vertrag für 9,5%, und nach einer Woche gaben sich auch die Arbeiter der Verntissa und der Hispano-Oerlikon mit 9,5% zufrieden.
Neue Kämpfe im Zeichen der Krise
Der Streik in der Pianofabrik Burger&Jacobi in Biel – an der Sprachgrenze zur französischen Schweiz – im Sommer 1974, war nach über zehn Jahren der erste größere Arbeitskampf in der Deutschschweiz. Er ist vor allem auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil er erstmals den tiefen Graben zwischen einheimischen und eingewanderten ArbeiterInnen zuschüttete und klar machte, auf welche Art die Konkurrenz unter den ArbeiterInnen wie von selbst verschwindet: durch den gemeinsamen Kampf gegen die Unternehmer. Gleichzeitig symbolisiert dieser Arbeitskampf den Übergang von der Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs zur Krise und zum Abwehrkampf gegen die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen.
Kaum zwei Jahre später, im März 1976, führte die Belegschaft des Gleisbaumaschinenherstellers Matisa in Lausanne einen beispielhaften Kampf gegen Entlassungen und gegen die Fesseln des Arbeitsfriedens. Zum ersten Mal seit 40 Jahren war es einer Belegschaft in der Maschinen- und Metallindustrie gelungen, mit ihrer Selbstorganisation im Betrieb den SMUV zu zwingen, einen „wilden Streik“ zu unterstützen. Mit dem Streik wurde die Spaltung unter den Arbeitern überwunden. Diese Einheit der Arbeiter im Kampf, die über den Streik hinaus aufrechterhalten wurde, war bestimmt ihr grösster Erfolg, auch wenn das Ergebnis in Bezug auf die Hauptforderungen unbefriedigend war.
Die Streiks bei Burger&Jacobi in Biel und bei Matisa in Lausanne sind beispielhaft und weisen verblüffende Parallelen zu aktuellen Kämpfen auf. Sie alle bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Belegschaften, die sich um betriebliche AktivistInnen herum organisieren, sowie dem Gewerkschaftsapparat und externen UnterstützerInnen. Dabei ist die Herausbildung eines starken, selbstermächtigten betrieblichen Kollektivs der entscheidende Erfolgsfaktor und gleichzeitig ein schwieriger Prozess, der kaum von aussen beeinflussbar ist.
Anmerkung: Der vorliegende Artikel ist eine überarbeitete Kurzfassung des gleichnamigen Beitrags im Buch von Anna Leder (Hg.) „Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung – Kollektive Gegenwehr in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Serbien“. Dort befinden sich auch alle Quellenangaben zum Text.