Betriebsräte auf Abwegen?

Dr. Rolf Geffken, Anwaltsskanzlei Rat & Tat

Von Hegel stammt die Erkenntnis, dass die Entwicklung einer Sache deren Wesen offenbart. Die Tragweite dieser Erkenntnis für die tägliche politische Praxis wird meist übersehen. Sie bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass der Kern einer Sache sich vor allem durch ihre Geschichte offenbart. Geschichte aber ist so ziemlich das Letzte, was bei der Einschätzung der Funktion und Tragweite des Arbeitsrechts und der Betriebsverfassung und der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit beachtet wird. Heutzutage beschränken sich Betriebsratsschulungen fast ausschließlich auf die Vermittlung von juristischem Wissen. Die historischen Hintergründe der Entstehung von Betriebsräten in Deutschland bleiben meist unbeleuchtet. Betriebsräte selbst halten sie für nicht relevant, und die meisten der Referenten auf Betriebsratsseminaren sowie die Berater von Betriebsräten besitzen kaum historische Kenntnisse. Wer von ihnen weiß noch, dass an der Wiege der bundesdeutschen Betriebsverfassung der erste und einzige politische Streik der gerade erst gegründeten DGB-Gewerkschaften stand? Wer weiß noch, dass der DGB und seine Einzelgewerkschaften das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 erbittert bekämpften und auf die „Segnungen“ dieser Art betrieblicher Mitbestimmung gerne verzichten wollten? Wer weiß noch, dass die Regierung Adenauer noch kurz vor Inkrafttreten des Gesetzes einen Antrag auf Verbot der KPD gestellt hatte? Und wer weiß, dass die Regierung mit diesem Gesetz den Einfluss der Gewerkschaften in den Betrieben beschränken wollte? Wer weiß, dass dieses nach inzwischen 60 Jahren Erfahrung gelungen ist? Es sind wenige, die es wissen. Der Grund ist ganz einfach: Man hat sich an ein System gewöhnt, das in den Betrieben eine prinzipielle Trennung von Gewerkschaft und Betriebsräten, ja sogar eine Art „Arbeitsteilung“ zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften vorsah: Betriebsräte sind zuständig für den Betrieb, Gewerkschaften sind zuständig für das, was über die Betriebe hinausgeht, also vor allem für Dinge außerhalb des Betriebes.

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Genau diese Trennung und das Herausdrängen der Gewerkschaften aus dem Betrieb war das erklärte Ziel Adenauers und der restaurativen Kräfte des bundesdeutschen Kapitals nach dem Zweiten Weltkrieg. An keiner einzigen Stelle des Gesetzes etwa wurde die Funktion des Betriebsrates als Interessenvertretung der Beschäftigten verankert (übrigens ganz im Gegensatz zum Betriebsrätegesetz der Republik Österreich). Betriebsräte sollten vielmehr mit den Arbeitgeber „vertrauensvoll zusammenarbeiten“, keine Arbeitskämpfe gegen die Arbeitgeber führen und sich im Übrigen vor allem jeder Art von politischer Betätigung enthalten. Diese Grundsätze wurden auch nicht durch die Novellierung des Gesetzes im Jahre 1972 abgeschafft. Wie weit der Anpassungsprozess der DGB-Gewerkschaften bis zu diesem Zeitpunkt vorangeschritten war, offenbart die Tatsache, dass vor dem Zustandekommen der Novellierung seitens der damaligen sozial-liberalen Koalition der DGB die Abschaffung dieser Grundsätze überhaupt nicht mehr verlangte, sondern nur relativ geringfügige Korrekturen im Bereich des sogenannten Mitbestimmungskataloges.

Inzwischen haben sich viele Betriebsräte so sehr an dieses System gewöhnt, dass sie sich überhaupt kein anderes Betriebsrätesystem mehr vorstellen können. Für sie ist es selbstverständlich, dass die Tätigkeit des Betriebsrates durch die Arbeitgeber finanziert wird. Für sie ist es selbstverständlich, dass Gewerkschaften auf die Arbeit der Betriebsräte unmittelbar keinen Einfluss haben und dass die Gewerkschaften auch innerhalb des Betriebes über keinerlei besondere Rechte (bis auf sogenannte Zugangsrechte) verfügen. Die Einbindung der Betriebsräte in den sogenannten innerbetrieblichen Willensbildungsprozess, d. h. deren Nutzung gerade auch für Zwecke des Unternehmens, konnte und kann immer wieder beobachtet werden. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen haben inzwischen bestätigt, dass auch einzelne Betriebsratsmitglieder sehr oft gegenüber „dem Unternehmen“ ein höheres Maß an Loyalität aufbringen als gegenüber den Gewerkschaften oder den Belegschaften. Die Mitbestimmung von Betriebsräten bei personellen Angelegenheiten oder bei Sozialplänen macht Betriebsräte beinahe täglich zu „Komplizen“ des Unternehmens. Mit der Zustimmung zu Kündigungen oder der Vereinbarung einer sogenannten Namensliste im Rahmen von Sozialplänen werden die Betriebsräte an der Entrechtung von Beschäftigten beteiligt. Selbst das Individualarbeitsrecht versagt bei betriebsbedingten Kündigungen im Rahmen von Sozialplänen, wenn die Betriebsräte solche „Rechte“ wahrgenommen haben. Der sich dabei auftuende Graben zwischen Beschäftigten und Betriebsräten ist beträchtlich, wird aber in der Öffentlichkeit nicht thematisiert. Auch nicht von den Gewerkschaften. Doch die Enttäuschung der Beschäftigten über „ihre“ Interessenvertretung ist gerade in solchen Situationen enorm. Dabei begreifen die Gewerkschaften Betriebsratstätigkeit grundsätzlich auch als Gewerkschaftsarbeit und haben im Laufe der Jahre systematisch die Bildungsarbeit für Betriebsräte ausgebaut. Doch ändert dies alles nichts daran, dass gewerkschaftliche Konzepte über eine Aufhebung der Trennung von Betriebsräten und Gewerkschaften längst nicht mehr diskutiert werden. Das gilt vor allem auch für die Betriebsratsschulungen. Während in den 1970er, 1980er Jahren insbesondere etwa im Bereich der IG Metall und der ÖTV intensive Debatten etwa über die Politisierung von Rechtsschulungen stattfanden, ist dies längst kein Thema mehr. Schlimmer noch: Die Gewerkschaften haben sich aus der Bildungsarbeit von Betriebsräten weitgehend zurückgezogen und überlassen die Fortbildung von Betriebsräten „juristischen Fachleuten“. Das sind meist Anwälte und Richter (!), die über Privatveranstalter das Schulungsgeschäft für Betriebsräte betreiben. Auf solchen Schulungen werden nur noch Rechtskenntnisse vermittelt. Der politische Zusammenhang zwischen Betriebsratsarbeit und Gewerkschaftsarbeit oder auch nur eine inhaltliche Ausrichtung der Betriebsratsarbeit wird auf solchen Seminaren nicht vermittelt. Auch wenn es die beteiligten Betriebsräte ungern hören: Durch das System der sogenannten Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz eröffnen sich den Betriebsräten eigentlich nur noch zwei wesentliche Perspektiven: Zum einen die reine „Zusammenarbeit“ mit dem Unternehmen (auch zu Lasten der Beschäftigten), zum anderen die Durchsetzung von Rechten im Rahmen von Einigungsstellenverfahren und Beschlussverfahren bei den Arbeitsgerichten. Zu zentralen Akteure werden dabei Spezialisten für das Arbeitsrecht, sofern die betreffenden Betriebsräte selbst noch keine „Spezialisten“ sind. Eine politische Aufgabe der Interessenvertretung, insbesondere auch durch eine Veränderung der innerbetrieblichen Machtverhältnisse, bleibt ausgeblendet. Politik findet allenfalls als Stellvertreterpolitik vor den Barrieren des Arbeitsgerichts oder sogenannter Einigungsstellen statt. Demokratische Transparenz bleibt durch sogenannte Schweigepflichten und durch die beschränkten rechtlichen Möglichkeiten der Betriebsversammlung ausgeblendet.

Nur eine gezielte inhaltliche Gegenstrategie der Betriebsräte, unterstützt und angeleitet von den Gewerkschaften, könnte dieses ändern. Doch längst stehen die Zeichen in den Betrieben auf „vertrauensvolle Zusammenarbeit“. Aufgrund des totalen Übergewichts der sogenannten Rechtsschulungen fragen die Betriebsräte nicht mehr nach dem, was sie wollen, sondern nach dem, was sie rechtlich dürfen. Auf diese Weise dominiert die juristische Perspektive sogenannter Fachleute die Betriebsratsarbeit. Man muss also feststellen, dass Adenauer heute „nachhaltig“ jenes Ziel erreicht hat, das er im Jahre 1952 verfolgt hatte. Ohne die konzeptionslose Anpassung der DGB-Gewerkschaften und die vorgegebenen Strukturen der sogenannten Betriebsverfassung wäre dies nicht möglich gewesen. Und ohne die Preisgabe gewerkschaftlicher Bildungsarbeit an private Seminarveranstalter wäre die Entpolitisierung der Betriebsratsarbeit gerade in den letzten Jahren nicht so weit vorangeschritten. Was deshalb Not tut, ist eine offensive Kampagne für inhaltliche und politische Konzepte in der Betriebsratsarbeit und die Entwicklung von Alternativen gegenüber etwa den Privatveranstalter POKO und WAF. Ansätze dazu gibt es. Sie reichen bei Weitem aber nicht aus, um den gegenwärtigen Zustand zu überwinden.

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