„Die Disteln brennen!“

Er wurde als Kemal Sadık Gökçeli geboren, als die Hirten mit ihren Herden von den Bergen des Taurus herabstiegen, wie er sagt, ziemlich sicher im Oktober, nur ob 1922 oder 1923 ist unklar, da es in dem kleinen Dorf Hermite (heute Gökçedam) keine Aufzeichnungen gibt. Die Frauen singen bei der schweren Arbeit Lieder über die Freiheit, hoffen auf eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Ihr Dorf wurde erst einige Jahre zuvor von ihnen selbst gegründet, als sie als Kriegsflüchtlinge von der Stadt Van im Osten über den Taurus zum Rand der Çukurova wanderten, zum Rand der fruchtbaren Ebene um Adana. Sein Vater Sadi verliebte sich schon am Vansee in die viel jüngere Nigar. Alle ihre acht Brüder sind Räuber, über einen von ihnen, Mayro, werden in ganz Ostanatolien und darüber hinaus Geschichten erzählt. Mayro wird mit 25 früh sterben, aber auch, wenn Kemals Romanfigur „Ince (der dünne) Memed“, mit ihm nicht eins zu eins gleichzusetzen ist, wird ihn sein Neffe mit dem 1955 veröffentlichten Roman „Memed, mein Falke“ dennoch unsterblich machen: Ein Leibeigener wird zum Rächer der einfachen Menschen, die von den Herren, den Agas, brutal unterdrückt werden.

Kemals Kindheit verläuft dramatisch: Früh verliert er ein Auge bei einem Unfall, als sein Vater zum Opferfest ein Schaf schlachtet. Einerseits ist er der Vielgeliebte, der als einziger in der kleinen Dorfgemeinschaft die Schule besuchen kann, alle legen für ihn zusammen! Anderseits umgibt ihn von klein auf nicht nur bittere Armut, sondern auch die Erfahrung heftiger Leidenschaften. So erdolcht sein Adoptivbruder Yusuf seinen Vater beim Gebet in der Moschee aus Eifersucht, und das unmittelbar vor den Augen des etwa Vierjährigen. Als Folge stottert er bis zu seinem zwölften Lebensjahr. Kemal hat keinen ordentlichen, eher einen magischen Lebenslauf: Notgedrungen arbeitet er in mehr als zwanzig Berufen, unter anderem als Hirte, Lastwagenfahrer, Hilfslehrer, Büchereigehilfe, Landarbeiter. Als Aufseher lässt er Bauern nachts heimlich vom Wasser der Gutsbesitzer schöpfen, als Briefeschreiber hilft er vielen, die nicht lesen und schreiben können.Seine Liebe aber gilt dem Erzählen und der Musik, er lernt die Saz, die türkische Laute, und wäre nach eigenen Angaben wahrscheinlich ein fahrender Sänger geworden, wenn er nicht das Schreiben entdeckt hätte.Denn als er zwischen 1951 und 1963 im Auftrag der Tagezeitung Cumhuriyet unter dem Pseudonym Yasar Kemal als einer der ersten Journalisten das ländliche Anatolien bereist, sind die Folgen phänomenal: Noch nie hat jemand so über die Habenichtse und Hungernden, über das Elend der bettelnden Kinder und auch nicht über den Dünkel und Hochmut der großen Herren geschrieben. Dazu verweigert er sich dem sterilen Hochtürkisch, er schreibt in der lebendigen Sprache, die er von den einfachen Menschen kennt. Aufgrund seiner Artikel kommt es zu heftigen gesellschaftlichen Debatten, selbst in der Nationalversammlung. Trotz kurdischer Herkunft versteht er sich als türkischer Schriftsteller, aber er wird wieder und wieder für Minderheiten Partei ergreifen. 1962 tritt er der marxistischen „Arbeiterpartei der Türkei“ bei und schreibt einen Leitfaden über den Kommunismus. Seine Haltung ist kompromisslos humanistisch, so tritt er nach dem Einmarsch der Sowjetischen Armee in die Tschechoslowakei 1968 wieder aus der Partei aus und hofft, dass sich die Menschen in den sozialistischen Ländern von den Bürokratien befreien und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. 1973 gründet er die türkische Schriftstellergewerkschaft. Jedes seiner Memed-Bücher endet mit einem Aufruf zur Revolte: Flammen verwandeln trockene Distelfelder auf Berggipfeln in weithin leuchtende Signalfeuer, die Menschen feiern den Tod eines Ausbeuters.Seine Erzählungen, Romane und Reportagen bringen Kemal in Schwierigkeiten: Er wird oft festgenommen, inhaftiert und einmal auch gefoltert, dreimal wird ihm der Prozess gemacht; seine Frau und Übersetzerin ins Englische, die Jüdin Thilda Serrero, mit der er 50 Jahre bis zu ihrem Tod 2001 zusammenlebt, wird sogar länger eingesperrt als er. Vom Staat und von Rechtsextremisten bedroht, lebt er zeitweilig im französischen und schwedischen Exil. Selbst noch 1995 wird er vor Gericht gezerrt, weil er sich in einem „Spiegel“-Interview für die Selbstbestimmung der Kurden einsetzt und thematisiert, dass im nichterklärten Bürgerkrieg im Osten der Türkei Zehntausende von Menschen den Tod gefunden haben und dass das Militär ungezählte kurdische Dörfer vernichtet hat. Immerhin wird er diesmal nicht inhaftiert und fordert bei zahlreichen internationalen und nationalen Preisverleihungen weiterhin die Einhaltung der Menschenrechte in seiner Heimat. Es ist nicht zu ermessen, was er für alle getan hat, die sich nach Freiheit, Gleichheit und einem selbstbestimmten Leben sehnen. Seine Helden und Heldinnen, nicht nur Memed, sondern auch Mutter Hüru, Ferhat Hodscha oder Ali, der Hinkende, werden im kollektiven Gedächtnis weiterleben, nicht zufällig sind seine Bücher in über vierzig Sprachen übersetzt worden. Als er Ende Februar 2015 in Istanbul stirbt, hinterlässt er seine zweite Frau Ayse Semiha Baban und seinen Sohn Rasit Gökçeli. Zu seiner Beisetzung auf dem Istanbuler Zincirlikuyu Friedhof neben dem Grab Thildas geben ihm Tausende von Menschen das letzte Geleit. Sein Geist aber lebt nicht nur in seinen Büchern weiter, sondern wird auch immer wieder zur Çukurova Ebene heimkehren. Denn, wie er in seinem Roman „Der letzte Flug des Falken“ schreibt: „In der Çukurova ist alles licht und klar: Felsen, Erde und Bäume, Vögel, Käfer, Schlangen und Menschen sogar … Der Himmel ist klares Blau, die Nächte sind sternenklar. Läge der Koran auf dem Grund eines Gewässers, er ließe sich lesen.“

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