Die griechische Regierung verabschiedet ein soziales Notprogramm, das den Ärmsten der Armen helfen soll. All die, die für diese humanitäre Katastrophe in Griechenland verantwortlich sind, also die Troika und die deutsche Regierung, schreien unisono auf: Unverschämtheit! Und sie drehen den Geldhahn weiter zu. Als die griechische Regierung daraufhin nach Russland schaut, erklingt der gleiche Schrei erneut: Unverschämtheit! Vertragsbruch mit den erzwungenen Strukturreformen!
Doch hier soll es diesmal nicht um die Tragödie der griechischen Lohnabhängigen gehen, auch wenn sie ein gutes Beispiel dafür ist, dass auch eine linke Regierung es nicht schaffen kann, den Kapitalismus aus dem Staat zu vertreiben. Es geht um den Skandal, dass diese Ignoranz gegenüber der Not einer ganzen Bevölkerung nicht als die Unverschämtheit gesehen wird, die sie in Wirklichkeit ja ist. Und es geht um den Skandal, wie viele – sicherlich nicht ebenso drastische – „Strukturreformen“, zu denen sich tagtäglich die Regierung wie das Kapital erdreisten, nicht ebenfalls als Unverschämtheiten gesehen werden.Mit der Agenda 2010 und dem SGB II, also der Arbeitsmarktderegulierung und den Hartz-Gesetzen – und verschärft im Schatten der Krise – entstand eine unverhohlene Klassengesellschaft der billigen Arbeit und des unsicheren Lebens. Die Prekarisierung umfasst das ganze durchökonomisierte Leben:
- Existenzsicherung: Enteignung, Sanktionen, Lohndumping – auch mit Tarif- beziehungsweise Reallohnsenkungen durch Erhöhung und Privatisierung der Sozialbeiträge; Niedriglöhne, Minijobs, Leiharbeit, Werkverträge oder Scheinselbständigkeit
- Arbeitsbedingungen: unbezahlte Arbeitszeitverlängerung und Arbeitsverdichtung, Überarbeitung durch Leistungsdruck bis zum Leistungsterror, Spaltung der Belegschaften, Dequalifizierung durch Outsourcing
- Lebensbedingungen: Rente mit 67, Workfare und Ämterschikane, entgrenzte Zumutbarkeiten, unbezahlbare Wohnungen, Schuldenbremse und ihre kommunalen Auswirkungen sowie Privatisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche und der Daseinsvorsorge
Dabei fällt kaum auf, wie unverschämt, wie unverblümt Kapital und Politik agieren und es nicht mal mehr für nötig halten, uns wenigstens anständig zu belügen. Offenere Respektlosigkeit ist kaum vorstellbar. Doch der Erfolg ausbleibender Revolten gibt ihnen Recht: Zu wenige haben erkannt, dass der angebliche Vertrag auf gutes Leben und gute Arbeit im Kapitalismus gekündigt wurde – wenn er denn je existierte.
Arbeitskampf durch Selbst-optimierung? Vom Opfer zum Mittäter
Zu viele klammern sich noch an die von den Gewerkschaftsapparaten gesättigte Illusion einer möglichen Rückkehr in die goldenen Zeiten des sozialen Friedens (den es nie für alle gab), wenn nur das jeweilige Management einsieht, dass Mitbestimmung, Gesundheitsschutz und „gute Arbeit“ sich im harten Kampf um Wettbewerbsfähigkeit langfristig auszahlen. Diese Illusion nährt den kapitalistischen Vertrag, verhindert erfolgreich konsequente Kämpfe und muss daher schonungslos entlarvt werden.
Es ist richtig, die Gewerkschaftsapparate dafür massiv zu kritisieren. Es wäre jedoch fatal, deshalb auf eine gewerkschaftliche Organisierung zu verzichten. Denn Arbeitsverdichtung, Personalabbau von olympiareifen Belegschaften, mitgetragen im Wettbewerb Jeder gegen Jede, Arbeitsgruppe gegen Arbeitsgruppe, funktionieren auch ohne Gewerkschaften – sie funktionieren auf der Basis unserer Aufstiegsillusionen. Die Individualisierung von Ursachen und Risiken macht Erwerbsarbeit wie Erwerbslosigkeit zur permanenten Bewährungsprobe, und die meisten Lohnabhängigen reagieren durchaus marktkonform: Die Zurichtung auf Lebenslauf und Karriere beginnt schon im Kindergarten, denn sie erscheint als die einzige Chance, dass „mein Kind es mal besser hat als ich.“ Wie sollen wir für eine Gesellschaft kämpfen, in der Menschen Zweck und nicht Mittel sind, wenn Lohnabhängige mehr denn je den Zwang zum Wettbewerb untereinander akzeptieren?
So lange aber der kapitalistische Verwertungszwang akzeptiert und nicht in Frage gestellt wird, kann es keine echte Demokratie, keine Gemeingüter, keine Gerechtigkeit geben. So lange bleiben Staaten, Kommunen, Menschen erpressbar. So lange werden nur Verwertungskriterien darüber bestimmen, welche Produkte wie hergestellt werden, welche Dienstleistungen es gibt und für wen, welche Menschen „wertvoll“ sind und welche „überflüssig“. Es zählen weder Menschenrechte noch Gerechtigkeit, weder Mitgefühl noch Charakter. Wer diese vorgeblichen Sachzwänge und Sparzwänge akzeptierte und immer noch akzeptiert, kann nun nicht anders, als moralisch anzuprangern, verarscht worden zu sein – und lässt sich trotzdem weiterhin verarschen.
Vertragsbruch mit Leistungszwang und Wettbewerb
Wahre Unverschämtheit ist daher ein offensiver Ungehorsam im Alltag und dieser muss den Konkurrenz- und Verwertungszwängen gelten. Die Macht des Kapitalismus über Produktion wie Konsum, die Ökonomisierung unserer Gefühle und Bedürfnisse, unserer Kommunikation und zwischenmenschlichen Beziehungen muss gebrochen werden, und zwar nicht nur auf den Plätzen und Demos, sondern auch im Alltagshandeln. Jede noch so kleine Konformitäts- und Wettbewerbsverweigerung, jede geübte Solidarität mit den Schwachen und Unterdrückten – am besten natürlich kollektiv – kann zum ersten Schritt jenseits dieses inhumanen Systems führen, das ohne unsere Akzeptanz und unser Mitmachen bankrottgeht. Wenn wir auch uns selbst gegenüber unverschämt schonungslos werden.
Denn natürlich ist es erfreulich, wenn immer mehr Menschen – oft vom Jobcenter gezwungen – zu ihrem Job eine desillusionierte Haltung entfalten, die die Identifikation mit dem Wohlergehen der Firma verweigert. WirtschaftsforscherInnen sprechen von Millionenschäden durch Demotivierung, wenn den Leuten klar wird, dass sie weder Dankbarkeit für unbezahlte Überstunden oder Rationalisierungsideen, noch für Anwesenheit im Krankheitsfall erwarten können. Doch: Ohne Berufsbindung geht leider auch der proletarische Verhaltenskodex baden, früher betrieblich sozialisiert und in den Belegschaften tradiert. Nicht nur PsychologInnen beklagen die breite Entsolidarisierung, ja Verrohung der Sitten, denn unemanzipatorische Kollektivierung wurde durch den Wettbewerb des „ich, ich, ich“ abgelöst.
Ja, tote Textil- oder BauarbeiterInnen am anderen Ende der Welt sorgen kurz für Empörung. Aber unsere eigene innere Spaltung in Lohnabhängige und speziell DienstleisterInnen auf der einen Seite und in KundInnen auf der anderen Seite, lässt uns dann doch schnell frohlocken, dass Outsourcing nach Bangladesch oder die Privatisierung der Telefonie uns ja so günstige Preise bescheren! Dank Kik oder Primark können selbst Hartz-IV-BezieherInnen ein T-Shirt zum Wegwerfen kaufen und eine Illusion von Teilhabe genießen. Und selbst klassenbewusste Lohnabhängige vergessen oft nach Feierabend, dass auch sie von der Arbeit anderer leben und profitieren. Ausgeblendet wird zudem, dass wir längst zu unbezahlten MitarbeiterInnen derjenigen Produkte und Dienstleistungen geworden sind, die uns angeblich das Leben erleichtern oder sogar als Statussymbol dienen sollen.
Es ist paradox, aber gerade dadurch angreifbar: Kontrolle und Druck werden immer offener, sind dabei jedoch zunehmend überflüssig geworden durch selbstrepressive Selbstkontrolle. Denn marktkonforme Demokratie und Selbstvermarktung via Facebook sind zwei Seiten einer Medaille. Auf der Suche nach breiterem Widerstand müssen diese uns schwächenden und bremsenden Realitäten akzeptiert werden. Dazu gehört auch, dass keinesfalls alle Lohnabhängige als solche gesehen werden wollen: Alle wollen zur „Mittelschicht“ gehören, nicht zum ungeliebten Proletariat. Als prekär will sich erst recht kaum jemand bezeichnen, am wenigsten Kulturschaffende oder AkademikerInnen. Selbstachtung ist wichtig, doch uns selbst zu belügen – und dies auf Kosten vermeintlich Schwächerer – macht aus Opfern MittäterInnen.
Den Glauben an das Versprechen der Leistungsgerechtigkeit aufzugeben – vielleicht das größte Hindernis gegen die Befreiung, da eine wahrhaftige „Karotte vor dem Esel“ im Koflerschen Sinne – fällt daher vielen am schwersten. Denn das hieße, die Hoffnung auf die versprochene Karriere und den sozialen Status nach all den Mühen der Anpassung, Qualifizierung und Selbstvermarktung endgültig aufzugeben. Das macht Angst wegen der Ausweg- und Hoffnungslosigkeit. Selbst in aufgeklärten Kreisen wird diese Angst oft mit Abwehr und Distanzierung von gescheiterten „LeistungsverweigerInnen“ bekämpft. Verstehen heißt jedoch nicht entschuldigen. Es gilt, endlich die allgemeine Desillusionierung und Verunsicherung, die enttäuschten Lebenspläne und Karrierechancen, die nicht honorierten Unterwerfungen und Selbstoptimierungen zu nutzen, um diese Lebenslügen offensiv anzugehen.
Ungehorsame Solidarität im Alltag
Aber auch die Linken unter den Lohnabhängigen sollten sich von einigen Illusionen verabschieden. So ist es schön und wichtig, wenn immer häufiger junge, linke Gruppen betriebliche Streikbewegungen von außen unterstützen – sei es bei Neupack oder Amazon. Es wird aber albern, wenn sie es in ihrer Freizeit, nach Feierabend tun und gleichzeitig ihren eigenen Job als Übergangs-Broterwerb ohne Kampfmöglichkeiten betrachten, blind für die Unterdrückung und Spaltung um sie herum. Der Überlebenskampf darf dabei nicht als Ausrede dienen, denn es kommt darauf an, wie wir tagtäglich um unser Überleben kämpfen: gegen wen, wem wir schaden, wen wir verschonen und wie weit wir bereit sind, uns zu erniedrigen und zu verleugnen. Auf menschlichen Ruinen werden nämlich keine Blumen wachsen, egal wie stark sich die Verhältnisse (über Nacht?) ändern sollten.
Kurzum: Wir müssen eine alte, fast schon banale Wahrheit ins kollektive Gedächtnis rufen, dass nämlich auch unsere Reproduktion politisch ist. Und damit ist nicht nur das Privatleben gemeint, sondern auch und vor allem unsere Erwerbsarbeit wie unser Konsumverhalten. Welche Produkte wir kaufen steht aktuell im Fokus politischer Reflektion, nicht aber, wie wir dabei die VerkäuferInnen oder BusfahrerInnen behandeln. Ebenso wenig, wie wir uns selbst in unseren Jobs samt deren unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktion verhalten.Und gerade das Alltagsverhalten – im Job wie als KonsumentIn – bietet die besten Möglichkeiten, den ungeschriebenen Vertrag aufzukündigen, mit dem wir den Kapitalismus Tag für Tag und dazu unbezahlt reproduzieren. Dies gilt auch für kleinste Formen von Entscheidungen (nicht erst Arbeitskämpfe), wenn sich ihre Strategie der kapitalistischen Logik verweigert. Denn Generalstreiks haben weder in Griechenland noch in Spanien etwas verändert, die – zugegebenermaßen erzwungene – solidarische Selbstorganisierung und Selbstversorgung verändern aber den Alltag und die Einstellungen vieler. Wie nachhaltig, wird sich noch zeigen. Kurzfristig gilt: Wenn am 1. Mai viel von internationaler Solidarität gesprochen wird und dabei am DGB-Stand ein kapitalistisch produziertes Bier genossen werden muss – dann bitte nicht ohne Trinkgeld für die Zapferin!