Die Zombies sind zurückgekehrt, und zwar im Ruhrgebiet, in Berlin und Bremen, in Mecklenburg-Vorpommern und im Großraum Köln/Düsseldorf. Zumindest liegen die Armutsquoten dort etwa zwischen 16 und 25 Prozent, auch wenn die Bundesregierung ständig beteuert, dass es den Menschen in der BRD so gut gehe wie nie. Der Paritätische Wohlfahrtsverband kommt in seiner jährlichen Studie zu einem anderen Ergebnis: 12,5 Millionen Menschen in Deutschland sind arm. Alleinerziehende, Erwerbslose, Kinder, Jugendliche und RentnerInnen sind besonders von Armut betroffen.
Noch mehr Menschen sind mit prekären Lebenslagen und Beschäftigungsverhältnissen konfrontiert. Letztere zeichnen sich durch Befristung, Teilzeit, Zeitarbeit und Geringfügigkeit aus. Das trifft nicht nur auf die sogenannten Geringqualifizierten zu, sondern auch auf junge AkademikerInnen oder gut ausgebildete Selbstständige und FreiberuflerInnen. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität, die Seminare für einen umgerechneten Stundenlohn von drei Euro gibt, der minijobbende Supermarktkassierer, die pro Zeile bezahlte freiberufliche Journalistin oder der Altenpfleger, der von einem befristeten Job in den nächsten taumelt: Bei allen Unterschieden – prekär sind sie doch alle irgendwie. Solche Beschäftigungsverhältnisse führen zu einer mangelnden sozialen Absicherung in allen Bereichen. Aber auch Zeitmangel, Immobilität und Verdrängung an die Stadtränder sind die Folgen für die prekär Beschäftigten. Und wer seine Arbeitsstelle häufig wechselt, die KollegInnen nur noch auf dem Sprung trifft, weil gemeinsame Pausen nicht mehr einkalkuliert sind oder vereinzelt für sich selbst schuftet, der hat es um einiges schwerer, Widerstand gegen diese Zustände zu leisten.
Die Prekarisierung der Beschäftigung kommt den ArbeitgeberInnen also nicht nur entgegen, weil sie auf diese Weise kräftig an Lohnkosten und Sozialabgaben sparen, sondern auch, weil mit einer wirksamen betrieblichen oder gewerkschaftlichen Organisierung unter diesen Umständen kaum noch zu rechnen ist. Auch die Einführung des Mindestlohns, der zudem von zahlreichen Ausnahmen unterlaufen wird, verspricht langfristig keine Verbesserung für die prekär Beschäftigten. Eine andere Frage ist sowieso, ob er gezahlt wird: Laut Süddeutsche Zeitung läuft die Mindestlohn-Hotline des DGB zwar heiß, doch nur wenige AnruferInnen seien bereit, ihr Recht auch durchzusetzen und der Zoll habe ohnehin nicht genügend Personal, um flächendeckende Kontrollen durchzuführen.
Da ist es spannend, den Blick auf die USA zu richten, wo momentan die Kampagne „Fight for $15“ für die Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Dollar kämpft. In der Kampagne sind vor allem prekär Beschäftigte organisiert: Fast-Food-ArbeiterInnen, VerkäuferInnen, Pflege- und Putzdienste, ErzieherInnen, Flughafenpersonal und BauarbeiterInnen. Im April machten sie mit Streiks und Demonstrationen auf ihre Forderung aufmerksam, in New York wurde eine McDonalds-Filiale gestürmt und in Seattle konnte sogar erfolgreich eine Lohnerhöhung für 40.000 Menschen durchgesetzt werden. Besonders interessant ist, dass sich an den Universitäten auch Lehrbeauftragte ohne Festanstellung der Bewegung angeschlossen haben. Denn hierzulande wird gerne bezweifelt – und zwar nicht nur von SoziologInnen, sondern auch von GewerkschafterInnen – dass Allianzen zwischen den Prekären der verschiedenen Schichten möglich sind. Zu groß sei die Angst vorm Abstieg bei den AkademikerInnen, selbst wenn dieser sich auf der Gehaltsabrechnung längst vollzogen hat.
Im jungen 21. Jahrhundert muten die Arbeitsbedingungen auch in Mitteleuropa häufig wie vor 150 Jahren an. Da ist es nicht verwunderlich, dass selbst in den großen Medien hin und wieder die Rede von der „Zombiekategorie“ ist. So bezeichnete jedenfalls der kürzlich verstorbene Soziologe Ulrich Beck den Klassenbegriff. Bislang sind die Zombies jedoch nicht wirklich zurückgekehrt – trotz der beständig größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich. Die soziale Frage wird in der BRD nur äußerst zaghaft gestellt, die vereinzelten Arbeitskämpfe werden selten mit einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik verknüpft, noch seltener haben die Kämpfenden ein klares Klassenbewusstsein. Obwohl den Paketzusteller und die Lehrbeauftragte eint, dass sie ihre Arbeitskraft unter ziemlich miesen Bedingungen verkaufen müssen – auch wenn sie verschiedenen Schichten angehören. Hier kann die aktuelle Kampagne in den USA inspirieren. Eine lautstarke und enthusiastische Picket-Line vor dem ein oder anderen Fast-Food-Lokal oder auf dem Campus wirkt nämlich ziemlich lebendig. Da könnte sich die in vielen Bereichen recht tote Gewerkschaftsbewegung in der BRD mal eine Scheibe von abschneiden – vielleicht ein erster kleiner Schritt zur Auferstehung.
Ein Kommentar zu «Totgesagte leben länger»