Lehrerinnen und Lehrer, die pubertierende Jugendliche unterrichten, erhalten manchmal den Eindruck, als würde in der Klasse ein Wettbewerb ausgetragen, wer sich am auffälligsten daneben benimmt, die meisten Regeln verletzt und wenn‘s Ärger gibt am besten bockig in die Opferrolle schlüpft. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter haben manchmal den Eindruck, dass die ArbeitgeberInnen der Pflegebranche genau denselben Wettbewerb führen, mit denselben Regeln. Dabei ist es nicht von Belang, ob der Arbeitgeber privat, in kommunalem Besitz, ein weltlicher oder kirchlicher Träger ist, ob er Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband ist oder nicht.
Da wird getan, als gäbe es weder das Arbeitszeit- noch das Entgeltfortzahlungsgesetz. Das Betriebsverfassungsgesetz wird außerordentlich kreativ interpretiert beziehungsweise wie eine unverbindliche Handlungsempfehlung betrachtet. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden in ihrer Freizeit zum Dienst gerufen, als hätte das Unternehmen einen Anspruch darauf. Wenn Angestellte arbeitsrechtliche Kenntnisse haben und das ablehnen, werden sie emotional erpresst. Das Direktionsrecht wird teilweise nach Gutsherrenart mit Recht zur Willkür verwechselt. Den Effekt, dass den Gutsherren, die es zu bunt trieben, die Bauern und Landarbeiter wegliefen, erleben heute manchmal auch die Unternehmen der Pflegebranche. Nur selten kommt es vor, dass sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in dieser Branche wehren, statt den Arbeitgeber zu wechseln. Umso erstaunter sind die Chefs, wenn diese Angestellten sich solidarisieren, gemeinsam gegen Missstände und Willkür vorgehen oder sich sogar Unterstützung bei einer Gewerkschaft holen.
In der Ökumenischen Sozialstation Leipzig, die gemeinsam von Diakonie und Caritas betrieben wird, war es bisher üblich, dass die Angestellten zur Kasse gebeten werden, wenn das Dienstauto durch Einbruch oder einen Unfall beschädigt wird. Da offenbar nur ein unzureichender Versicherungsschutz vorliegt, sollen die Angestellten die Differenz bezahlen. Vor ein paar Monaten ließ sich ein Angestellter dies nicht mehr gefallen und holte sich Rat bei der FAU und verw eigerte die Zahlung. Der Geschäftsführer wollte nun ein Gespräch mit dem Mitarbeiter führen. Erst alleine dann mit Vertretern der „Mitarbeitervertretung“. Da nach Ansicht der FAU Leipzig die „Mitarbeitervertretung“ kein Organ der Arbeitnehmerschaft ist und der Geschäftsführer sich nicht zutraute, ein Gespräch unter Hinzuziehung eines FAU-Vertreters zu führen, war von Arbeitnehmerhaftung keine Rede mehr, was sich allmählich im Betrieb herumspricht.
Anders die Reaktion auf gewerkschaftliche Organisierung bei der Volkssolidarität Leipzig: Eine Wohnbereichsleiterin (WBL) weigerte sich, FSJlerInnen, Azubis und PraktikantInnen als volle Pflegekräfte einzusetzen und forderte die Geschäfts- und Personalleitung auf, eine unbesetzte Stelle wieder zu besetzen, da die Unterbesetzung zu einer Verschlechterung der Pflege führe. Die Stelle wurde erst wieder neu besetzt, als das Personal eine Überlastungsanzeige angekündigte. Daraufhin wurde der WBL die Teilnahme an einer Personalführungsschulung nahegelegt. Bald darauf wird sie ohne Angabe von Gründen freigestellt und das gesamte Personal – mit einer Ausnahme – solidarisiert sich mit ihr. Also wurde nicht die stellvertretende WBL die Nachfolgerin, sondern die Ausnahme. Die freigestellte und die stellvertretende WBL wandten sich dann an die FAU. Neben der Unterstützung für die freigestellte Mitarbeiterin, forderte die FAU Leipzig von der Volkssolidarität die Einsetzung der übergangenen Stellvertreterin mit entsprechender Bezahlung. Auch beteiligten sich Mitglieder der FAU maßgeblich am Bündnis „Rettet die Volkssolidarität“, das in und an einigen Einrichtungen einen „Offenen Brief“ verteilte, in dem unter anderem arbeitsrechtliche Missstände angesprochen wurden. Daraufhin gab es innerhalb des Wohnheims einige „ordnungspolitische“ Versetzungen, es begann eine „rege Internetrecherche“, wer denn Mitglied der FAU sei, damit die Vorgesetzten bei deren Arbeitsleistung „mal besonders hinschauen“. Allerdings hatten die meisten FAU-Mitglieder im Betrieb schon vorher ihre Gewerkschaftsmitgliedschaft recht offensiv gezeigt. Nun sind die Mitgliedschaften im Bündnis und der FAU aber nicht deckungsgleich. Aus arbeitsrechtlich-taktischen Gründen wurde gerade Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von einer Doppelmitgliedschaft abgeraten. Unter einigem Personal- und Technikaufwand und Bemühung einer Abmahnkanzlei, die es mutmaßlich darauf anlegt, die Beweismittel und eidesstattlichen Versicherungen zu sehen, bemüht sich die Geschäftsführung nun die Bündnisleute im Betrieb zu identifizieren. Die Holzwege und immer neuen Mutmaßungen haben schon einen gewissen Unterhaltungswert.Der erste Kammertermin am Arbeitsgericht Leipzig in der Klage auf Rücknahme der Versetzungen und Schmerzensgeld wegen Mobbings gegen die Volkssolidarität Leipzig wird voraussichtlich am 30. April stattfinden.