Ein mittlerweile klassischer Text zur Geschichte des Klassenkampfs in Deutschland beginnt mit einer minutiösen Darstellung des wilden Streiks beim Traktorenhersteller John Deere in Mannheim, der am 22. Mai 1973 begann. Die treibende Kraft dieses selbstorganisierten Kampfes waren vor allem migrantische Arbeitskräfte, die sich gegen die mörderische Erhöhung des Arbeitstempos an den Fließbändern wehrten. Nach wenigen Tagen wurde der Streik durch die brutale Jagd von Werkschutz und Schlägertrupps auf „Ausländer“ zerschlagen. „›Alte Betriebsräte, die schon seit Jahrzehnten im Werk sind, sagten nachher ganz blaß: Es war wie 1933.‹ Der Streik war nach einem genau ausgearbeiteten Plan zerschlagen worden.“ (Karl Heinz Roth, Die „andere“ Arbeiterbewegung, 1974)
Innerbetriebliche Spaltungslinien
Es war der erste in einer ganzen Reihe von Streiks, die im August zu einer regelrechten Streikwelle mit fast 100.000 Beteiligten wurde, in der zwei Merkmale auffielen: Anders als in den Septemberstreiks von 1969, die das im betrieblichen Alltag auch in den Jahrzehnten zuvor durchaus normale Phänomen von wilden, also nicht gewerkschaftlich legitimierten Streiks ins öffentliche Bewusstsein holten, trat 1973 ein neues Subjekt auf den Plan, das in der Arbeiterbewegung bisher als nicht mobilisierbar galt. Migrantische Arbeiter und insbesondere Arbeiterinnen in der Metall- und Elektroindustrie, die als angelernte Maschinenbedienerinnen und Fließbandarbeiter zu geringen Löhnen für das deutsche Wirtschaftswunder schufteten, rebellierten gegen ihre Arbeitsbedingungen. Anders als es die klischeehafte Darstellung der durch staatlich organisierte Anwerbeverfahren ins Land geholten „Gastarbeiter“ will, waren viele von ihnen in den 1950er und 1960er Jahren auf eigene Faust aus den perspektivlosen Verhältnissen in Spanien, Italien, Marokko, Portugal, Griechenland oder der Türkei aufgebrochen, um im Wirtschaftswunderland ihr Glück zu versuchen. Jahrelang hatten sie knechtende Arbeitsbedingungen, die Unterbringung in Baracken und Bruchbuden und rassistische Ausgrenzungen erduldet, um Geld ins Heimatdorf schicken oder sich die Grundlage einer selbständigen Existenz in ihrem Land aufbauen zu können. Als der Spiegel auf dem Titel seiner Ausgabe vom 3. September 1973 den Streikführer bei Ford in Köln mit der Schlagzeile „Wilde Streiks. Lohnpolitik auf eigene Faust“ abbildete, ging er am Kernpunkt der Auseinandersetzung vorbei und widerlegte sich selbst mit den Worten eines Streikenden: „Für uns ist das Geld gar nicht mal so wichtig“, berichtete ein Italiener, „der Arbeitsplatz muß menschlicher werden. Wenn einer von uns mal pissen muß, dann muß er ein dutzendmal fragen. Die Leute sind so erbittert, daß sie Eisen fressen könnten.“ Und ein Türke soll gesagt haben: „Macht kaputt, türkische Leute nix Menschen, wie Tieren“.
Was hier mit der sprachlichen Verballhornung schon angedeutet wird, war das zweite Merkmal dieser Streikwelle: die extreme rassistische Mobilisierung von staatlicher und privater Gewalt gegen die Streikenden. In vielen Fällen gelang es der Unternehmensleitung – oft in Zusammenarbeit mit Betriebsräten und Gewerkschaften – die Streiks durch rassistische Spaltungen niederzuschlagen und aktive Kolleginnen und Kollegen zu entlassen. Trotzdem musste sie in der Lohnfrage Zugeständnisse machen, auch in Form von linearen Lohnerhöhungen (40 Pfennig, 50 Pfennig, 1 Mark usw. mehr für alle), die vor allem die Gewerkschaften störten, weil sie darin eine Verletzung der „Leistungsgerechtigkeit“ sahen – die ideologische Rechtfertigung für innerbetriebliche Spaltungslinien, die in der Ausgestaltung der Tarifverträge so sorgsam zementiert werden. Umgekehrt war es für die Streikenden gerade diese Art der Forderung, mit der sie instinktiv die Spaltungen innerhalb der Klasse und den Lohn als individualisierende Fetischform der „bezahlten Arbeit“ überwinden wollten.
300.000 Streikende in über 300 Betrieben
Auf den Streik bei John Deere folgten der wilde Streik im Juni auf der Klöckner-Hütte in Bremen und im Juli der Kampf von 3.000 Arbeitsmigranten bei den Hella-Werken in Lippstadt, die „50 Pfennig mehr für alle“ forderten, nachdem kurz zuvor 800 der 2.000 deutschen Arbeiter einen Teuerungszuschlag von 15 Pfennig erhalten hatten. Als Reaktion wurde eine Hundertschaft der Bochumer Polizei nach Lippstadt verlegt und 50 Polizisten auf dem Werksgelände stationiert, die mit brutaler Härte gegen Streikende vorging.
Den Auftakt der dann einsetzenden Streikwelle bildete der Kampf beim Vergaserhersteller Pierburg in Neuss vom 13. bis 17. August – zu dem gerade das Buch „Wilder Streik – das ist Revolution“ von einem der damals Beteiligten erschienen ist, dem auch der sehenswerte Film „Pierburg – Ihr Kampf ist unser Kampf“ von 1973 beiliegt. Im Unterschied zu vielen anderen Kämpfen dieses Zyklus war es hier gelungen, die Spaltung zwischen deutschen männlichen Facharbeitern und migrantischen, vor allem aus Griechenland stammenden Frauen zu überwinden und gemeinsam für die Forderungen nach einer Mark mehr für alle und der Abschaffung der „Leichtlohngruppe“ II – der tarifvertraglich legitimierten Frauendiskriminierung – einzutreten.
Streikforscher zählten am Ende des Jahres fast 300.000 Beteiligte an solchen wilden Streiks in über 300 Betrieben. Aufgrund der Größe der Fabrik und der dramatischen Zuspitzung im Streikverlauf wird diese Streikwelle im historischen Bewusstsein oft mit dem Streik bei Ford in Köln vom 24. bis zum 30. August 1973 verbunden, der allerdings nur ein Höhepunkt war. Dort arbeiteten damals 12.000 aus der Türkei stammende Menschen an den Maschinen und Fließbändern und traten sehr geschlossen und erkennbar als das neue Subjekt der Klassenkämpfe auf. Entsprechend repressiv reagierten Kapital und Staat, mussten sich in der Folge aber ernsthaft damit beschäftigen, wie diese für die reibungslose Produktion der deutschen Industrie nicht mehr verzichtbare Industriearbeiterschaft in die Gesellschaft „integriert“ werden könnte.
„Donnerstag, 30.8., sieben Uhr fünfzehn morgens, war es dann so weit. Vor Tor III hatte Personalchef Bergemann den gesamten Werkschutz, als Arbeiter verkleidete Polizisten, Mitglieder des Betriebsrats und der IG Metall-Vertrauensleutekörperleitung und mittlere Manager, zusammen mehrere hundert Mann, um sich geschart. Ein Transparent und Plakate mit der Aufschrift: ›Wir wollen arbeiten‹, waren gemalt. Einheiten der Bereitschaftspolizei Nordrhein-Westfalens waren in taktisch günstige Positionen gegangen. Der Plan war wie bei John Deere in Mannheim, nur brutaler, in größeren Dimensionen entworfen: es sollte der Eindruck erweckt werden, als ob es zwischen arbeitswilligen deutschen Arbeitern und den Emigranten bei deren Demonstration während des Schichtwechsels zu einer Massenschlägerei käme; die Polizeieinheiten sollten dann dazustoßen, den Demonstrationszug der Streikenden vollends zerschlagen und das Streikkomitee verhaften. Tatsächlich verlief alles nach Plan.“ (Roth, Die „andere“ Arbeiterbewegung)
Der Anfang vom Ende des Nachkriegsbooms
Die Kölner Boulevardpresse schrieb von „Türken-Terror“ – und fragte ängstlich: „Übernehmen Gastarbeiter die Macht? Zum ersten Mal wurde ihnen ihre Stärke bewusst.“ In globaler Perspektive der für das 20. Jahrhundert prägenden Leitindustrie, dem Auto, betrachtet, wiederholte sich hier nur, was Mitte der 1930er Jahre in den großen Sit-Down-Streiks in den USA passiert war und später in den schnell expandierenden Automobilproduktionen Brasiliens und Südafrikas und dann Südkoreas geschehen sollte und heute in China und Indien stattfindet. Völlig unabhängig von den jeweiligen kulturellen Settings scheint die fordistische Massenproduktion von Autos (und Elektro-Waren) zum einen auf ein migrantisches, sprich bäuerliches, Subjekt als Arbeitskraft angewiesen zu sein, zum anderen aber durch ihre spezifische Produktionsweise auch eine spezifische Rebellionsweise zu provozieren. Die technische Art der Verkettung einer arbeitsteiligen Produktion durch Fließband- und Zuliefersysteme verleiht auch kleinen, unqualifizierten Arbeitergruppen an neuralgischen Punkten einen enormen Machthebel, der zum Ausgangspunkt massenhafter Kämpfe werden kann. Diese Form proletarischer Produktionsmacht hat sich zusammen mit den permanenten räumlichen Verlagerungen der Produktion über den Erdball verbreitet. Das Kapital flieht beständig vor den neuen Rebellionen, deren Basis es selbst geschaffen hat, um neue Orte mit ausbeutbarer Arbeitskraft zu finden. Der Theoretiker des kapitalistischen Weltsystems, Immanuel Wallerstein, hat jüngst in einem Kommentar auf die Endlichkeit dieser Reproduktionsstrategie des Kapitals hingewiesen: Nach China kommt Kambodscha, d.h. die noch anzapfbaren Arbeitskraftreserven werden immer kleiner!
Das „Déjà-vu“ der Massenarbeiterrebellionen, das den geografischen Verlagerungen des Kapitals folgt und sie vor sich hertreibt (Beverly Silver), überlagert sich aber mit zwei weiteren Zyklen, die den Verlauf der kapitalistischen Entwicklungsdynamik bestimmen. Im so genannten Produktzyklus erschöpfen sich die Profite aus einer zunächst innovativen Technologie wie dem Automobil in dem Maße, in dem sich die Produktion immer mehr verbreitet und standardisiert wird. Mit dem Eintritt von China und Indien in die Weltautoproduktion scheint hier ein Endpunkt erreicht zu sein. Entsprechend heftiger dürften dort auch die Kämpfe werden, weil keine Monopolprofite mehr zur Verfügung stehen, um sozialpartnerschaftliche Deals wie in den USA oder Westeuropa zu finanzieren.
Die zweite Überlagerung ist mit dem geopolitischen Zerfall der hegemonialen Leitmacht verbunden, die für einen erfolgreichen Boom der Weltwirtschaft erforderlich ist. Als die aus dem verarmten und agrarisch geprägten Süditalien immigrierten Proletarier die modernen Massenfabriken der Auto- und Elektroindustrie in Turin und Mailand im Heißen Herbst von 1969 mit Streiks und Fabrikrevolten überzogen, schrieb die Presse: „Unser Vietnam haben wir im eigenen Haus“. Der Vergleich hätte nicht treffender sein können, denn „1968“, zu dem auch der deutsche Streiksommer 1973 gehörte, markierte sowohl das ökonomische Ende des Nachkriegsbooms, als auch die beginnende Krise der Weltmacht USA, die bisher den widersprüchlichen Laden der kapitalistischen Reproduktion flott gemacht und wieder in Schwung gebracht hatte. Die Massenarbeiterstreiks in Westeuropa, in die sich selbst die stabilitätsverwöhnte BRD im Sommer 1973 einreihte, markierten damit einen entscheidenden Wendepunkt in der globalen Entwicklung des Kapitalismus. Die Weltwirtschaftskrise von 1974/75 brachte zwar die Rebellionen von 1968 bis 1973 zum Halt, aber die darauf folgende Finanzialisierung und spekulative Blasenbildung von fiktivem Kapital konnte der Reproduktion des Kapitals keinen neuen Schwung verleihen, sondern sie nur simulieren. Heute, vierzig Jahre nach dem kurzen Sommer der wilden Streiks in Deutschland, sind all seine Impulse wieder virulent.