Anatomie eines Protestes

Talfahrt für Portugals Regierung (Quelle: Vera Drake)

Im Laufe der beiden letzten Jahre hat sich die internationale Wahrnehmung Portugals stark verändert. War 2011 ein Generalstreik beider großer Gewerkschaftsverbände noch nahezu unbemerkt passiert — nicht nur im Ausland — so war dies spätestens mit dem iberischen Warn-Generalstreik vom November 2012 ganz anders geworden. Fast 40 Jahre nach der Aprilrevolution ist Portugal wieder ein Land geworden, auf das man schaut — es wird wieder das Lied von Grandola, der dunkelhäutigen Stadt gesungen, wie immer wenn mensch in Portugal zornig und aktiv wird.

Und aktiv sind viele, wie selten zuvor — in den letzten 35 Jahren. Waren es damals, im Zeitraum 1973 bis 1978 die Belegschaften großer Werften, der Metall- und Textilindustrie, die Betriebe besetzten, Fabrikräte unterschiedlichster politischer und gesellschaftlicher Reichweite organisierten, Stadtteilkomitees anregten oder bildeten, so sind es heute immer wieder die „Prekären“, die die Meßlatte der letzten Jahre legen. Der März 2011 hatte dafür eine echte Signalwirkung. Ohne dass irgendwelche großen Organisationen dazu aufgerufen hätten, demonstrierten etwa 300.000 Menschen quer durchs Land, selbst in einer Provinzstadt wie Faro waren es noch 5.000. Wobei zu betonen wäre, dass auch in Portugal „prekäre Arbeit“ schon lange nicht mehr nur in bestimmten Branchen verbreitet ist, sondern in allen: Diverse Aktionen — beispielsweise — der Metro-Beschäftigten von Porto waren eben Aktionen von prekär beschäftigten Menschen. Deren massive Beteiligung auch einen wesentlichen Teil des Erfolgs des Streiks vom vergangenen November ausmachte, ein Erfolg, der im Wesentlichen aus zwei Entwicklungsschritten besteht: Seit dem Streik ist klar, dass eine Mehrheit der EinwohnerInnen die Austeritätspolitik ablehnt — und damit ist zweitens auch klar, dass die Situation der Regierung zusehends komplizierter wird.

Unabhängig Abhängige

Insgesamt, nach offiziellen Statistiken, sind ab dem zweiten Halbjahr 2012 erstmals über 50 % der „Arbeitskraft“ (rund 5,5 Millionen Menschen) entweder prekär beschäftigt oder erwerbslos, wobei bei den unter 24-jährigen 40 % erwerbslos sind. Rund 750.000 „unabhängige ArbeiterInnen“ (also rund 15 % aller arbeitsfähigen Menschen des Landes) sind dabei. Beispielsweise sind nahezu alle Beschäftigten der Gastronomie solche Unabhängigen — was nichts anderes heißt, als dass sie ihre Sozialversicherung selbst bezahlen müssen und natürlich keinerlei Kündigungsschutz oder Ähnliches haben. Jeweils über 600.000 Menschen sind darüber hinaus entweder Teilzeitbeschäftigte oder LeiharbeiterInnen.

Es haben sich aus dieser Lebenslage heraus zahlreiche Organisationen und Gruppierungen gebildet, die bei der Organisation von Protesten und Widerstand eine bedeutende Rolle spielen, ohne direkt politische Organisationen zu sein. Eher sind das dann gewerkschaftsähnliche Vereinigungen zum einen, wie etwa die Unflexiblen Prekären oder der Euromayday Lisboa; zum anderen — insbesondere im von Kürzungen besonders betroffenen Ausbildungswesen — Zusammenschlüsse von Menschen verschiedener gesellschaftlicher Sektoren, wie LehrerInnen mit Eltern und AktivistInnen aus dem jeweiligen Stadtteil. Zum Teil sind darin gewerkschaftliche Organisationen, vor allem aus der CGTP-Intersindical beteiligt (auch einige des kleineren UGT Verbandes — in Opposition zum eigenen Vorstand), zum Teil wird auch bewusst Distanz gehalten — zu sehr ist die CGTP an der KP Portugals orientiert (auch wenn sie, ähnlich wie der DGB mit CDU-Leuten, immer eine „katholische Fraktion“ im Bundesvorstand haben).

Ihre politischen Aktivitäten sehen Gruppierungen wie die oben kurz erwähnten oft weniger bei den Parteien oder Wahlen, mehr in solchen Aktionen wie einer „Volksinitiative für ein Gesetz gegen Prekarität“. Mit anderen zusammen hat die Vereinigung zur Bekämpfung der Prekarität die nötigen 40.000 Unterschriften in der vorgegebenen kurzen Frist übertroffen und somit muss der Entwurf des „Gesetzes gegen die Prekarität“, das den größten sozialen Missständen einen Riegel vorschieben würde, im Parlament entschieden werden. Man kann lange über die Sinnhaftigkeit dieser Initiative diskutieren — hier steht sie zunächst einmal, inklusive der zahlreichen Manöver insbesondere, aber nicht nur, der Mehrheitsparteien, für die politische Wirksamkeit solcher Aktivität.

Kein Vertrauen in Parteien

Bei den letzten Parlamentswahlen beteiligten sich 58,7 % der Stimmberechtigten, wovon 2,5 % leere Wahlzettel abgaben: die Kommunistische Partei erhielt 7,9 %, der Linksblock 5,1 % und die Kommunistische Arbeiterpartei verfehlte mit 1,2 % den Einzug ins Parlament. Offensichtlich ist ein bedeutender Teil der kritisch bis widerständig eingestellten Bevölkerung der Wahl eher fern geblieben, und überhaupt hat die parlamentarische Volksvertretung einiges an Prestige eingebüßt. Dass gerade eben zum zweiten Mal ein verabschiedeter und vom Staatspräsidenten unterzeichneter Haushalt vom Obersten Gericht als in mehreren Punkten nicht verfassungsgemäß beurteilt wurde, wird diesen Prozess sicher nicht bremsen.

Dass sich in dieser Situation staatstragende Einrichtungen wie das Oberste Gericht direkt in Widerspruch zur Regierung setzen, oder auch, dass der Rektor der wichtigsten Universität des Landes die Regierung heftig kritisiert, hat auch etwas mit Erscheinungen der Auflösung und vielleicht einer Neuzusammensetzung des bürgerlichen Gesellschaftsblocks zu tun.

Militär sieht Gefahr für die Souveränität

Gerade vor dem Hintergrund der portugiesischen Geschichte wurden die kritischen Stellungnahmen aus Militärkreisen mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Die Vereinigungen Associação de Oficiais das Forças Armadas (AOFA), Associação Nacional de Sargentos (ANS) e Associação de Praças (AP) sahen im März 2013 einen „Pfeiler des Staates“ in Gefahr — sich selbst. Die Reduzierung um 8.000 (Berufs-) Soldaten, die in der Debatte stand, sei eine Gefahr für die nationale Souveränität.

Dass diese Kritik auch von Teilen der Linken insofern positiv aufgenommen wurde, als sie fälschlicherweise in eines gesetzt, bzw. verglichen wurde mit der historischen Rolle der Bewegung der Streitkräfte (MFA) im Jahre 1974 zeigt, dass in all den Ländern, die unter dem Austeritätsdiktat der EU insbesondere Deutschlands, zu leiden haben, immer auch nationalistische Strömungen vorhanden sind, die von der Rechten naheliegenderweise leicht besetzt werden können. Denn der „konservative Portugiese“ sieht es besonders ungerne, wenn bei Privatisierungsprojekten brasilianisches Kapital erfolgreich mitbietet.

Protest und Tradition

Was damals anders war: Die Mehrheitsfraktion der MFA war 1974 der Sammelpunkt all jener Strömungen gewesen, die sich nicht von Parteien vereinnahmen lassen wollten. Dies betraf auch die KP Portugals, deren Bestreben es damals war, gegen radikalere Kräfte zu mobilisieren. Wer bei den Präsidentschaftswahlen 2011 die KP-Argumentation gegen den vom Linksblock unterstützten unabhängigen Kandidaten Alegre verfolgte — der als Zweitplatzierter knapp unter 20 % der Wählerstimmen hatte, allerdings gerade einmal runde 800.000 — sah sich übrigens durchaus an jene Zeiten erinnert. Damals war das Militär, neben der Geheimpolizei, von vielen als die einzige noch funktionierende staatliche Einrichtung betrachtet worden – alles dies ist heute ziemlich anders.

Die Auseinandersetzungen um solche historischen Rollen haben, außer bei recht kleinen Gruppierungen, keine Kontinuität. Der Traum vom Wohlstand im einstigen Armenhaus Europas hat vieles eine Generation lang zugeschüttet. Wenn jetzt wieder „Grandola“ gesungen wird, ist dies auch eine Besinnung auf Traditionen, die vielfältig sind. Und auch die damalige Parole „pobres nos querem, rebeldes nos terão“ (sie wollen uns arm, sie werden uns als Rebellen haben) ist wieder aufgetaucht — mit „prekär“ statt „arm“.

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