Kenia, Bombay, Mexiko

Diese Reportagen können als inhaltliche Ergänzung zu den in der DA 214 besprochenen Romanen1 gelesen werden. Dazu sind es sehr unterschiedliche Formen von Reportage: eine klassische Großreportage, eine verschachtelt-subjektivistische Erzählung und ein Stück Anti-Medienarbeit.

Die Britin Michela Wrong ist langjährige Afrika-Korrespondentin der BBC, der Financial Times etc., eine Links-Liberale.2 Hier geht es um den Journalisten und NGO-Mitarbeiter John Ghitongo, der nach dem Amtsantritt von Präsident Kibali im Jahr 2002 zu einer Art Sonder-Minister für Korruptionsbekämpfung gemacht wurde. Die Erwartungen an Kibalis Präsidentschaft waren groß, insbesondere was ein Ende von Korruption und Klientelpolitik entlang ethnischer Grenzen anging, die die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse Kenias seit Jahrzehnten geprägt hatten. Ghitongo muss aber bald erkennen, dass zwar die Nutznießer wechseln, nicht aber das System. Wrong folgt Ghitongos Erkenntnisprozess, gelegentlich durchbrochen durch Vorblenden, die Spannung schaffen und Rückblenden und Exkursen, die die Darstellung mit Hintergrundwissen unterfüttern, so z.B., wie die Briten während der Kolonialzeit an der Ausformung eben jener ethnischer Grenzen kräftig mitwirkten. Eine umfangreiche, in sich geschlossene Reportage, gestützt auf Dokumente, Interviews und eigene Anschauung, ergänzt um sozialwissenschaftliche Analyse und etwas literarische Verdichtung – in Zeiten der Informationsschnipselei ist das was, auch wenn politisch gewisse Abstriche gemacht werden müssen, siehe oben. Negativ anzumerken ist auch, dass der Fokus stark auf der Oberschicht liegt, aus der Ghitongo selbst auch stammt.

Wrong ist Journalistin, die auch literarische Mittel verwendet, Suketu Mehta ein Dichter, der auch Journalismus macht.3 Auf knapp 800 Seiten versucht er, die Mega-City Bombay zu fassen zu kriegen. Das Buch besteht aus einer Anzahl lose miteinander verknüpfter Einzelreportagen, die in drei Abschnitte sortiert sind: Macht, Vergnügen, Passagen. Es geht um Konflikte zwischen Hindu-Nationalisten und Muslimen, Gangsterorganisationen, die Polizei, die kaum verhüllt Folter und Todesschwadronen einsetzt, die Kuriositäten von Bollywood, das Rotlicht-Milieu und mehr. Der Abschnitt „Passagen“ zeigt dramatische biographische Wandlungen: Diamantenhändler werden zu Bettelmönchen, eine Familie zieht aus dem Slum in ein Mittelschichtviertel, ein Junge reißt aus, um Dichter zu werden – und Mehtas eigene „Passagen“. Er stammt aus der weiteren Oberschicht, zog als 14-jähriger mit seinen Eltern von Bombay nach New York, 20 Jahre später kehrt er zurück. Aber das ist schwierig: er ist ein Outsider, überall, nur nicht in einer ganz schmalen Schicht von Leuten, die wie er selbst eben wohlhabend, intellektuell, liberal und sozusagen globalisiert sind. Für die LeserInnen ist sein fremder Blick ein Vorteil, weil sie mit ihm verblüfft werden, wenn er die Stadt erkundet. Das ist sehr gut erzählt und vor allem im Kleinen interessant: Wie wohnen die Leute, wie arbeitet der Kartoffelbällchen-Frittierer, und wie sortieren sich die Leute im überfüllten Vorortzug, damit sie an der richtigen Station aussteigen können? So ziemlich alles kommt vor, aber Mehtas Interesse gilt etwas zu sehr dem besonderen Wahnsinn und weniger dem alltäglichen. Die berühmte Bartänzerin, die aber ein Mann ist, und zwar ein heterosexueller, der mal so in den Job reingerutscht ist, das ist eine irre Story, aber macht das wirklich die Maximum City aus? Mehta macht an sich keinen unsympathischen Eindruck (abgesehen von ein paar wirtschafts-liberalen Äußerungen), und sein Subjektivismus macht das Buch stark, aber es ist doch der Subjektivismus eines Privilegierten.

John Gibler ist linker Journalist und Aktivist und sein schmales Buch bietet viel: Zum einen eine plausible Analyse der Drogen-Ökonomie und der damit verbundenen sozialen und politischen Verhältnisse. Seine Hauptthese: Der Drogenkrieg findet nicht zwischen den Kartellen auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite statt, sondern zwischen etablierten und seit Jahrzehnten mit dem Staatsapparat verknüpften Kartellen einerseits und der seit den 80er Jahren neu entstandenen Konkurrenz andererseits. Und zweitens geht es bei diesem Buch um die verschiedenen Medienstrategien, die eben das verschleiern sollen, die aber auch von Bedeutung sind, indem sie ein Klima der Angst und der Straflosigkeit fördern. Zu den zigtausend Ermordeten gehören neben tatsächlich Beteiligten auch eine Vielzahl Unbeteiligter, diese werden als Geste der Macht getötet, oft noch als Leiche grausam inszeniert und so in eine Botschaft verwandelt, die sich an die Gegner, aber auch an die Bevölkerung richtet: Wir haben die Macht. Laut Gibler ist es dieses Klima (vermeintlich) unbeschränkter Machtausübung bei zumeist tatsächlicher Straflosigkeit von Seiten des Staates, das die gesamte Gesellschaft in Mexiko vergiftet und den Rahmen dafür bietet, Rechnungen aller Art gewaltsam zu begleichen, worunter nicht zuletzt die sozialen Bewegungen leiden. Die Straflosigkeit setzt aber die Anonymisierung und Diffamierung der Opfer voraus, und die Einschüchterung die Produktion und Verbreitung der Botschaften. Hier setzen Gibler und Andere an: Den Opfern sollen Name und Biographie gegeben werden, die Angehörigen müssen zu Wort kommen, die Schuldigen benannt werden. Zweitens versucht er den Botschaften die Unmittelbarkeit zu nehmen: die Konstruktion von Fotos und YouTube-Videos wird deutlich gemacht, und hierfür erweist sich die distanzierende Funktion der Sprache und die Veröffentlichung in Buchform als sinnvolles Mittel. Nur ein Mosaiksteinchen, aber immerhin.4

Zum Schluss ein Hinweis: Seltsam, dass in Mexiko die Dealer mit Blaulicht durch die Stadt brausen, mit eigenen Nummernschildern, auf denen die Abkürzung ihres Kartells steht. Oder der Polizeioffizier in Bombay, der im Beisein von Journalisten Verdächtige foltert. Oder ein Staat, der sein eigenes Geld fälscht.5 In der anarchistischen Staatskritik scheinen derartige Phänomene bislang nur wenig Aufmerksamkeit gefunden zu haben. Jedenfalls sind entsprechende Texte schwer zu finden.6

 

[1] Indra Sinha: Menschentier. Büchergilde Gutenberg 2011. / Roberto Bolaño: 2666. Hanser 2009. / Ngugi wa Thiong‘o: Herr der Krähen. A1 Verlag oder Büchergilde Gutenberg 2012.

[2] Lesenswert ist auch: Michela Wrong: Auf den Spuren von Mr. Kurtz. Mobutus Aufstieg und Kongos Fall. Edition TIAMAT, 2002. 334 S.

[3] Eine Gegenüberstellung, die so nicht ganz richtig ist – ein Notbehelf…

[4] Gibler schreibt aber selbst, dass eine grundsätzliche Lösung die Reduzierung der enormen Gewinnmargen des Drogenhandels voraussetze, sprich die Legalisierung.

[5] Dieses schöne Beispiel ist aus Wrongs Mobutu-Buch.

[6] Noam Chomskys Buch mit dem in diesem Zusammenhang viel versprechenden Titel Der gescheiterte Staat (2006) befasst sich v.a. mit den USA. Hinweise finden sich aber z.B. in Interviews in Von Jakarta bis Johannesburg. Anarchismus weltweit, hg. von Sebastian Kalicha und Gabriel Kuhn (Unrast, 2010).

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