Dr. Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora (als Teil der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora), war Kurator der Sonderausstellung „Die Deutschen, die Zwangsarbeit und der Krieg“ im Jüdischen Museum, die über vier Monate bis Ende Januar diesen Jahres in Berlin zu besichtigen war und nachfolgend in Moskau, Warschau und anderen Städten in Europa und den USA präsentiert wird. Mit der Direkten Aktion sprach er über das Wesen der Arbeit vor dem Hintergrund des NS-Zwangsarbeitssystems.
Herr Dr. Jens-Christian Wagner, zunächst eine Frage zu der Zusammenarbeit entlang der Sonderausstellung. Wie kam es zum Engagement der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora zum Thema Zwangsarbeit?
In der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora spielt das Thema Zwangsarbeit seit längerem eine zentrale Rolle. Das hat historische Gründe: Mittelbau-Dora war das erste und am Ende weitaus größte Konzentrationslager, das zu dem einzigen Zweck eingerichtet wurde, die Arbeitskraft seiner Insassen für die deutsche Rüstungswirtschaft auszubeuten. Mittelbau-Dora gilt als Modellfall der KZ-Zwangsarbeit und deshalb haben wir das Thema auch in unserer Dauerausstellung, die 2006 eröffnet wurde, in den Mittelpunkt gestellt.
Im Kern geht es in unserer Gedenkstätte um das Thema der Zwangsarbeit im Konzentrationslager. Diese kann man von anderen Formen der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus – also etwa der von Kriegsgefangenen, zivilen „Fremdarbeitern“, Strafgefangenen oder Juden sowie Sinti und Roma – nicht isoliert betrachtet werden. Aus diesem Grund haben wir in den Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora gemeinsam mit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ die Idee entwickelt, weltweit erstmals eine Ausstellung zu konzipieren, die übergreifend alle Formen der Zwangsarbeit im NS und damit auch alle Opfergruppen darstellt und zugleich die lange Geschichte der mangelnden gesellschaftlichen und politischen Anerkennung ehemaliger Zwangsarbeiter nach 1945 beleuchtet.
Zu Beginn der Ausstellung wird explizit auf die ideologische Komponente der Zwangsarbeit im sogenannten „Dritten Reich“ eingegangen, ich denke da etwa an die Zeitungsartikel, in denen Zwangsarbeit für Juden und Jüdinnen als „Lehrgänge“ für sonst „Arbeitsscheue“ dargestellt wird. Waren derartige Inszenierungen erfolgreich? Eigentlich müssten doch gerade in den Großstädten mit einer lebhaften jüdischen Kultur derartige Darstellungen nur wenig Wirkung entfaltet haben…
Diese Inszenierungen hatten ja nicht das Ziel, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass angeblich Arbeitsscheue arbeiten lernen. Vielmehr ging es um öffentliche Demütigung unter bewusstem Rückgriff auf antisemitische Klischees – denken Sie etwa an das in der Ausstellung gezeigte Foto von November 1938, das eine Kolonne jüdischer Zwangsarbeiter mit dem Transparent „Kolonne Grünspan lernt arbeiten“ zeigt (Katalog, S. 38).
Das (gewollte) Selbstbild der Deutschen als fleißig und arbeitsam sollte jedenfalls durch die Konstruktion der Antithese – der schmarotzenden „volksfremden Elemente“ – bestätigt werden. Dieses Selbstbild war nun allerdings keine originäre Erfindung der NationalsozialistInnen – ebenso wenig wie der Antisemitismus. Das System der NS- Zwangsarbeit gedieh auf fruchtbarem ideologischem Boden – würden Sie diese Einschätzung unterstützen?
Antisemitische Klischees (etwa das vom jüdischen „raffenden“ im Gegensatz zum nichtjüdischen „schaffenden“ Kapital) waren in der deutschen Bevölkerung seit Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitet; die antisemitische Hetze der Nazis war also durchaus anschlussfähig.
Natürlich kann eine Beschäftigung mit der Zwangsarbeit im NS-Regime nicht den Zweck von Zwangsarbeit, wie sie vor allem nach 1939 praktiziert wurde, ausblenden – die sogenannte „Vernichtung durch Arbeit“. Nichtsdestotrotz noch ein paar Fragen zum Bild von Arbeit vor und nach 1933. Die NationalsozialistInnen unterstellten nicht bloß jüdischen Menschen, sondern vor allem auch ihren linken Gegnern oder auch dem städtischen Subproletariat – Obdachlosen, Drogensüchtigen usw. – beständig, das deutsche Volk um den Lohn seiner Arbeit bringen zu wollen. Was drückt diese enorme Fixierung auf „Arbeit“, von einigen BeobachterInnen schon als gesellschaftlicher Fetisch bezeichnet, über die deutsche Gesellschaft dieser Zeit aus?
Die Trennlinie zwischen Arbeitseifrigen und „Arbeitsscheuen“ war nicht politisch, sondern rassistisch definiert, im Hinblick auf Obdachlose und andere sogenannte „Asoziale“ auch sozialrassistisch. „Arische“ politische Gegner galten den Nazis dagegen zumindest potenziell als vollwertige Mitglieder der propagierten Volksgemeinschaft. Sie waren nur eben falsch „gepolt“ und mussten – immer in NS-Perspektive gedacht – deshalb durch Zwangsarbeit umerzogen werden. In der Bevölkerung war dieser Gedanke durchaus populär. Es zeigt sich, wie weit letztlich der Leistungsgedanke (nur wer etwas leistet, ist etwas wert) ging.
Wie groß war der Anteil der Industrie an der Abwicklung der NS-Zwangsarbeit vor Beginn des Zweiten Weltkrieges? Gab es auch schon vor 1939 direkten Zugriff der Wirtschaft auf Menschen, die zur Arbeit gezwungen wurden?
Volkswirtschaftlich war die Zwangsarbeit vor dem Krieg auf den ersten Blick bedeutungslos. Nutznießer dieser frühen Formen der Zwangsarbeit waren auch nicht Industriebetriebe, sondern staatliche Unternehmen und die SS (Steinbrüche, Moorkultivierungsarbeiten). Sekundär gesehen war die Zwangsarbeit allerdings nicht ganz unwichtig, denn vor allem die „Aktion Arbeitsscheu Reich“ von 1938 (von Arbeitsämtern und Gestapo gemeinsam organisierte Einweisung sogenannter Arbeitsscheuer in die Konzentrationslager) trug vor dem Hintergrund des Vierjahresplanes und der Kriegsvorbereitung erheblich zur Disziplinierung der Arbeiterschaft bei.
Gab es vor 1939 Versuche unter den ZwangsarbeiterInnen, sich zu organisieren und auf irgendeine Weise Widerstand zu leisten? Vielleicht durch inhaftierte GewerkschafterInnen?
In den Konzentrationslagern gab es schon frühzeitig Versuche, konspirative Widerstandsgruppen zu organisieren. Diese wurden von politischen Häftlingen getragen, vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten. Darunter waren selbstverständlich auch Gewerkschafter. Die Zwangsarbeit spielte dabei aber keine Rolle.
Auf der anderen Weise gab sich die NSDAP ja auch als Arbeiterpartei. Fand der hämische Ton z.B. der in der Ausstellung zu sehenden Zeitungsartikel über die Opfer der Zwangsarbeit Anklang bei den ArbeiterInnen?
Ja, die Zwangsarbeit der „anderen“ traf auch in der Arbeiterschaft verbreitet auf Zustimmung, denn sie war vielfach mit dem Gefühl sozialen Aufstiegs verbunden, selbst wenn sich real an der materiellen Situation nichts änderte. Das hat viel mit dem Mechanismus von Inklusion und Exklusion zu tun. Man könnte das Aufstieg durch Unterschichtung nennen: Der deutsche Arbeiter war nach 1939 Vorgesetzter seines ausländischen „Kollegen“, den er beliebig drangsalieren konnte. Selbstverständlich haben das nicht alle getan, aber man muss doch konstatieren, dass sich nur eine kleine Minderheit mit den nichtdeutschen Zwangsarbeitern solidarisch gezeigt hat. Das „Klassenbewusstsein“ war in dieser Hinsicht doch recht schwach ausgeprägt bzw. eben nur auf die Angehörigen des eigenen „Volkes“ beschränkt. Es zeigt sich auch hier, dass der Rassismus der gesellschaftliche Fixpunkt der NS-Zeit war.
Die Zahlen der Betroffenen von Zwangsarbeit im Nationalsozialismus sind unglaublich – über 20 Millionen. Es wird deutlich, dass die deutsche Wirtschaftsleistung nach 1939 komplett von der Zwangsarbeit abhängig war. Wie beurteilen Sie die Kompensationsleistungen und die Aufarbeitungsleistung der deutschen Wirtschaft bis heute?
Zunächst einmal dauerte es fast 60 Jahre, bis sich die deutsche Wirtschaft überhaupt dazu durchrang, zumindest eine symbolische Entschädigung an die noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiter zu zahlen. Und das geschah auch nicht aus eigenem Antrieb, sondern als Folge bürgerschaftlichen Engagements in Teilen der deutschen Bevölkerung, vor allem aber aus der Sorge um den Ansehensverlust deutscher Industrieunternehmen im Ausland und damit um internationale Absatzmärkte, nachdem in den USA von Überlebenden Sammelklagen gegen deutsche Unternehmen eingereicht worden waren. So kam es im Jahr 2000 zum Bundestagsbeschluss über die Auszahlung von knapp 5 Mrd. Euro an ehemalige Zwangsarbeiter durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Das hat sicherlich vielen materiell geholfen und nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Herkunftsländern mit dazu beigetragen, dass die ehemaligen Zwangsarbeiter nun endlich politisch und gesellschaftlich als NS-Opfer anerkannt wurden. Dennoch bleibt ein bitterer Beigeschmack, denn alle „Leistungsempfänger“ mussten Verzichtserklärungen auf weitere Ansprüche gegen deutsche Unternehmen unterschreiben, und außerdem blieben mit den italienischen und sowjetischen Kriegsgefangenen große Zwangsarbeitergruppen bis heute von Zahlungen ausgeschlossen.
Kaum zu fassen auch diese Information, die in der Sonderausstellung vermittelt wurde: Im ersten Jahr des Russland-Feldzugs der Wehrmacht wurden zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene nicht zur Zwangsarbeit eingezogen, sondern einfach dem Tod durch Verhungern und Erfrieren überlassen. Erst die Kriegskosten führten zum massenhaften Einsatz sowjetischer Gefangener im System der Zwangsarbeit – freilich mit nicht minder schockierenden Opferzahlen. Haben Sie Rückmeldungen erhalten, wie gerade Schulklassen auf diese Dimensionen reagierten? In den letzten Jahren sind sowjetische Leiden unter der deutschen Besatzung ja etwas in den Hintergrund geraten, das Leiden der deutschen Bevölkerung in den ehemaligen Ostgebieten wird dafür immer vehementer thematisiert.
Die sowjetischen Kriegsgefangenen sind überhaupt die wohl größte unter den weitgehend vergessenen Opfergruppen. Nicht zuletzt aus diesem Grund haben wir dieses Thema in der Ausstellung recht breit dargestellt. Es bleibt zu hoffen, dass nicht nur unsere Ausstellung, sondern auch der bevorstehende 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion dazu beitragen, dass die Geschichte der sowjetischen Kriegsgefangenen stärker in das gesellschaftliche Bewusstsein in Deutschland rückt.
Verachtung für angeblich arbeitsscheue Menschen, das Einteilen der Bevölkerung in nützlich und unnütz, Arbeit um jeden Preis – fast scheint es, als ob die ideologischen Voraussetzungen, die Zwangsarbeit ab 1933 ermöglichten, heute nicht allzu fern zu sind. Wurde derartiges rund um die Sonderausstellung von den Verantwortlichen diskutiert?
Ich bin kein Freund allzu verkürzter historischer Analogiebildungen. Hier jedoch hat der historische Befund einen hohen Aktualitätsbezug, nicht nur in Bezug auf das Leistungsdenken und utilitaristische Ideologeme, sondern ganz allgemein bezüglich der Frage, wie eine durch und durch rassistisch formierte Gesellschaft funktioniert. Das ist ausstellungsdidaktisch die Kernfrage und das Leitthema der Ausstellung.
Vielen Dank für das Gespräch.