Die Redaktion „Zeitlupe“ der Direkten Aktion sprach mit dem Redakteur der Graswurzelrevolution Bernd Drücke, der 1987 in einer Volkszählungsboykott-Initiative (VoBo-Ini) in Münster aktiv war.
Bernd, du hast in den 80ern einiges zur Volkszählung (VZ) publiziert. 1987 standest du aufgrund deiner Aufforderung, die VZ zu boykottieren und die Kennnummern aus dem Volkszählungsbogen zu schneiden vor Gericht. Hat sich der Kampf denn aus deiner Sicht gelohnt?
Ja, auf jeden Fall. Es war ein schönes Gefühl, dass wir die Volkszählungsboykott-Kampagne damals mit so vielen Menschen kollektiv und solidarisch vorantreiben konnten. Wir haben unzählige Infoblätter und Broschüren unter die Leute gebracht und eine Gegenöffentlichkeit herstellen können. Die Solidarität, die ich damals insbesondere im Zusammenhang mit meinem Prozess erlebt habe, war eine wichtige Erfahrung. Das Verfahren gegen mich wurde früh eingeleitet, weil ich zusammen mit einer Genossin am „Spiegelhof“ in Münsters Altstadt einen Büchertisch aus dem Umwälzzentrum „betrieben“ und u.a. Volkszählungsboykott-Flyer und die Broschüren „Vorsicht Volkszählung“ und „Restrisiko Mensch“ unter die Leute gebracht habe. Letztere dienten den Behörden dann als Vorwand für eine bundesweite Einschüchterungs- und Kriminalisierungswelle. In den Schriften wurde u.a. empfohlen, die Kennnummern aus den Erhebungsbögen zu entfernen, damit die Identitäten von BoykotteurInnen nicht rekonstruiert werden können. Da diese Bögen aber Eigentum des Staates seien, das nicht beschädigt werden dürfe, wurde der Aufruf zum Schnibbeln von den Behörden kurzerhand zur Straftat erklärt. Dazu diente der berüchtigte Gummi- und Gesinnungsparagraf 111 StGB („Öffentliche Aufforderung zu Straftaten“). Für mich persönlich war es das erste Mal, dass ich ein Ermittlungsverfahren am Hals hatte.
Wie lief dein Prozess ab?
Der war ungemein politisierend, diente also in gewisser Weise der Aufklärung über Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Er glich einer Kabarettveranstaltung. Der Richter war ein adipöser Choleriker in schwarzer Robe, der mehrmals drohte, den bis auf den letzten Platz gefüllten Saal zu räumen, weil sich Zuschauerinnen und Zuschauer geweigert hatten, sich zu erheben, und es lautstarke Protestäußerungen aus dem Publikum gegeben hatte: „Ich habe auch boykottiert!“
Als ich meine politische Verteidigungsrede gehalten habe, lief sein Kopf peu à peu rot an und am Ende platzte es aus ihm heraus: „Wenn alle so denken würden wie Sie, dann würde hier alles im Chaos enden!“ Der Richter war über meine agitatorisch-staatskritische Verteidigungsrede so empört, dass er beim Strafmaß schließlich über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinausging.
Hättet ihr mit einem solch harten Urteil gerechnet?
Die Kriminalisierung hat uns überrascht und geärgert. Für mich persönlich war die juristische Auseinandersetzung mit dem Staat damals eine ganz neue Erfahrung, die mich weiter radikalisiert hat.
1987 studiertest du im konservativ-katholischen Münster…
Ja, ich bin 1986 zum Studieren in die Provinzmetropole Münster gezogen. In meiner Heimatstadt Unna war ich schon als Schüler politisch aktiv. In Münster habe ich dann in einer Anarcho-WG gewohnt und mich u.a. in der VoBo-Bewegung engagiert. Sozusagen als „Parallelgesellschaft“ zur Tristesse des katholischen CDU-Milieus, hat sich in Münster seit 1968 auch eine lebendige alternative und libertäre Szene etabliert, in der ich mich bis heute engagiere und wohl fühle.
Reichte die VoBo-Initiative Münster über die studentischen Kreise hinaus?
Ja. Das war damals in vielen Städten eine große, basisdemokratisch organisierte soziale Bewegung, in der sich von AnarchistInnen bis Grünen, von ArbeiterInnen, Arbeitslosen bis Studis ein breites gesellschaftliches Spektrum sammelte, mit dem gemeinsamen Ziel das „Volksverhör“ zu stoppen oder zu boykottieren.
Wie sah die Gründungsveranstaltung eurer Volkszählungsboykott-Initiative aus?
Das kann ich nicht sagen. Die VoBo-Bewegung in Münster war ja schon Anfang der 80er aktiv und aufgrund der großen lokalen Alternativ- und Studi-Szene bestens organisiert. Als ich Ende 1986 zur „VoBo-Ini Münster Mitte“ dazugestoßen bin, gab es in Münster zehn Volkszählungsboykott-Initiativen. Unsere Initiative hat sich jeden Mittwoch im Café Malik getroffen. Und montags gab es dann ein gemeinsames Plenum mit Delegierten aus den verschiedenen Münsteraner VoBo-Inis.
Wie war die Stimmung?
Die war gut. Anfangs waren wir optimistisch, dass es 1987 erneut gelingen könnte, die Volkszählung zu kippen. 1983 wollte der Staat ja eine Volkszählung durchführen, um die Bevölkerung zu durchleuchten und zu erfassen. Dieser Plan führte bundesweit zu Massenprotesten. VoBo-Initiativen gingen vor Gericht und durch alle Instanzen. Die breite Verweigerungswelle und schließlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stoppten die Volkszählung 1983. Der Datenschutz wurde erstmals als Grundrecht anerkannt. Den BürgerInnen wurde ein Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ versprochen. Eine Sammlung von nicht anonymisierten Daten auf Vorrat und zu unbestimmten Zwecken schloss das Gericht aus. Das war ein Riesenerfolg für die bundesweite Volkszählungsboykott-Bewegung. Die Kohl-Regierung hat das allerdings als schallende Ohrfeige empfunden. Und so setzte der damalige CSU-Bundesinnenminister Zimmermann alles daran, 1987 eine „nachgebesserte“ Volkszählung durchzusetzen.
Hattet ihr Boykottsammelstellen zur Abgabe der unausgefüllten Haushalts- und Personenfragebögen eingerichtet?
Ja.
Wie sah das dort aus? Wer lief da alles bei euch ein?
Das Spektrum der VolkszählungsboykotteurInnen war bunt. Es reichte vom linksradikalen Studi bis zur empörten Rentnerin. Die Angst vor dem Überwachungsstaat war groß.
Wie habt ihr den 25. Mai 1987, also den Stichtag für die Volkszählung, erlebt?
Da unsere Treffen und Informationsveranstaltungen zuvor schon aus allen Nähten geplatzt sind, hatten wir große Erwartungen und haben mit einer riesigen Boykottwelle gerechnet. Deshalb waren wir erst einmal ein bisschen ernüchtert, weil letztlich doch weniger Menschen die „Volksaushorchung“ boykottierten als gehofft.
Wart ihr von der geringen Zahl von „echten“ Verweigerern enttäuscht?
Ja. Wir haben zwar tausende Bögen eingesammelt, aber unsere Erwartungen wurden nicht erfüllt. Dabei war es verständlich, dass der Boykott kleiner als gedacht ausfiel. Die Kriminalisierungswelle wirkte auf viele Menschen einschüchternd. Im Rahmen der Vorbereitungsphase zur Volkszählung bzw. zum Boykott derselben, wurden zwischen Mai und Juli 1987 bundesweit Büros von VoBo-Initiativen, Zeitungsredaktionen und einige Buchläden durchsucht. Dabei wurden neben den schon erwähnten Büchern aus dem Kölner Volksblatt-Verlag auch unzählige Flugblätter beschlagnahmt. Gegen mehrere Projekte, die Tipps zur Unkenntlichmachung der Fragebögen veröffentlicht bzw. ausgelegt hatten, wurden Ermittlungsverfahren nach § 111 StGB eingeleitet.
Wie habt ihr den sog. „weichen Boykott“ von denjenigen beurteilt, die falsche Angaben gemacht haben?
Das fanden wir gut. Wir wollten ja weder eine Massenkriminalisierung noch „MehrTürer“. Der „weiche Boykott“ hatte sicher seinen Anteil daran, dass die gigantische Datensammlung unbrauchbar wurde und sich nach 1987 über viele Jahre hinweg keine Regierung mehr getraut hat, eine „richtige“ Volkszählung zu machen.
Habt ihr mit dem „Altpapier“, also den leeren Bögen, noch eine Aktion durchgeführt?
Die Bögen wurden zunächst von den VoBo-Inis gesammelt und zum Notar gebracht. Alle paar Tage wurde dann die aktuelle Boykottzahl bekanntgegeben. Am 12.7.1987 stand das Boykott-Barometer laut Stadtblatt Volkszählung-EXTRA Nr. 12 um 21 Uhr bei „7.712 Boykottierer/innen“ in Münster.
In Berlin kam es während der traditionellen 1. Mai Demo 1987 zu einer Protestdemonstration gegen die Volkszählung, an die sich die bis heute berüchtigten „1. Mai Krawalle“ anschlossen. Hatte die Vobo-Initiative Münster auch nach der Volkszählung noch Auswirkung auf die „Polit-Szene“ der Stadt. Kam es zu einer Vereinzelung oder hielten die ProtagonistInnen in Friedensbewegung, Häuserkampfbewegung, Anti-Atom-Bewegung, Kollektiven und Freundschaften weiter zusammen?
Das war unterschiedlich. Die VoBo-Gruppen waren heterogen. 1988 waren wir zuletzt nur noch zwei Aktive in der VoBo-Ini Münster Mitte, die wir dann aufgelöst haben. Aber VoBo war für mich und viele andere BewegungsaktivistInnen immer nur ein Thema von vielen. Ich habe mich mit anderen u.a. auch in der antimilitaristischen, der Anti-Atom-, der HausbesetzerInnen-, Studi- und Antifa-Bewegung engagiert. Viele AktivistInnen haben sich im Laufe der Zeit ins Private zurückgezogen, andere sind weiterhin politisch aktiv. Münster ist eine typische StudentInnenstadt, wo viele ein paar Jahre lang studieren und sich nebenbei engagieren. Nach dem Studium ziehen viele weg oder sind mit Familie und Beruf beschäftigt. Das ist dann oft der Knackpunkt, wo es einen Abschied aus den sozialen Bewegungen gibt. Die Anti-Atom-Massendemos 2011 zeigen aber, dass es möglich ist, viele Menschen, die sich ins Private zurückgezogen haben, wieder zu motivieren und somit eine neue Stärke der sozialen Bewegungen zu erreichen.
Im Vergleich zu der breit aufgestellten Volkszählungsboykott-Bewegung in den 80er Jahren fällt der Protest zur Volkszählung 2011 bisher eher ruhig aus. Welche Gründe spielen hier aus deiner Sicht eine Rolle?
Dass es noch keine große Kampagne gegen den „Zensus 2011“ gibt, hat sicher mehrere Gründe. Viele wissen noch gar nicht, was zwischen Mai und Dezember 2011 auch auf sie persönlich zukommt. In Zeiten von Facebook, Vorratsdatenspeicherung, Google Street View, grassierender Kameraüberwachung und elektronischem Personalausweis ist es schwieriger geworden, sich gegen den Ausbau des Überwachungsstaates zu stemmen. Die Erfassung ist umfassender geworden. Deshalb hat sich Fatalismus breitgemacht. Da sollten wir gegensteuern und aufklären. Mit dem „Zensus 2011“ steht eine gigantische Sammlung von persönlichen Daten bevor. Durch die Zwangsbefragung entstehen hoch problematische Personenprofile. 20 Millionen Menschen sollen mit bis zu 186 Fragen pro Haushalt durchleuchtet werden und Religionszugehörigkeit, Einkommen, Familienumstände und vieles mehr offenlegen. Wie schon 1987, hat die NPD ihre Mitglieder aufgefordert, sich bei den 80.000 „InterviewerInnen“ einzureihen, um Linke und illegalisierte MigrantInnen ausfindig zu machen.
Die Befragung durch unbekannte „InterviewerInnen“ ist dabei nur eine Seite der Schnüffelei. Im Hintergrund werden Informationen u.a. aus den Melderegistern, von Finanz- und Arbeitsämtern mit den Ergebnissen der Befragung zusammengeführt und unter einer eindeutigen Nummer gespeichert. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht eine solche Ordnungsnummer 1983 verboten. Ob die versprochene Sicherung und Anonymisierung dieser Datenmassen gelingen wird, ist fraglich. Bekanntlich blüht der Handel mit persönlichen Daten.
„Es ist eine historische Wahrheit, daß sich die Kräfte, die den Wandel und die sozialen Revolutionen bestimmen, nicht durch Volkszählungen messen lassen.“
Ab dem 9. Mai 2011 werden im Rahmen des „Zensus 2011“ rund 20 Millionen BundesbürgerInnen zwangsbefragt. Um die Antworten mit verschiedenen Registern zusammenführen und speichern zu können, wird jede Anschrift eine Ordnungsnummer erhalten. Diese Einführung eines „einheitlichen Personenkennzeichens oder sonstigen Ordnungsmerkmals“ führte aber bereits 1983 zum Verbot der anberaumten Volkszählung des gleichen Jahres durch das Bundesverfassungsgericht. Die Verknüpfung der erhobenen Daten und die damit verbundene Erstellung von „Persönlichkeitsprofilen der Bürger“ wurde für unzulässig und demokratiegefährdend erklärt.
Was hält Bernd Drücke, Redakteur der Graswurzelrevolution (GWR) und ehemaliger Volkszählungsboykott-Aktivist, von dem Argument: „Wer nichts zu verbergen hat, muss die Überwachung auch nicht fürchten?“
Das ist kein „Argument“, sondern eine Naivität, die zum Himmel schreit. Wissen ist Macht. Und je mehr der Staat über uns weiß, umso schwieriger wird es für uns, das System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu bekämpfen.
Die erhobenen und verknüpften Zensusdaten werden nicht etwa sofort nach ihrer Auswertung gelöscht, sondern bleiben bis zu vier Jahre lang gespeichert und können über die Ordnungsnummern zu heiklen Personenprofilen verknüpft werden. Die ungenügende Anonymisierung der Zensusdaten ist eine Gefahr für Informationelle Selbstbestimmung, Datenschutz und Datensicherheit. So entsteht für einen langen Zeitraum eine zentrale Datensammlung mit erheblichem Missbrauchspotenzial. „Die Daten werden in einer Zentraldatenbank zusammengeführt und können über eindeutige Ordnungsnummern verknüpft bzw. zugeordnet werden – obwohl das Bundesverfassungsgericht eine solche Identifikations- oder Personenkennziffer bereits in früheren Urteilen untersagt hatte“, so Rolf Gössner in der GWR 356.
Gerade für Menschen, die sich in den sozialen Bewegungen engagieren, sollte also klar sein, dass wir uns kollektiv und solidarisch gegen den „Zensus 2011“ und alle anderen Versuche uns zu durchleuchten, stemmen sollten.
Literaturempfehlung:
Verena S. Rottmann: „Mikrozensus und Volkszählung 2011“, Tolkemitt Verlag bei Zweitausendeins, www.zweitausendeins.de