Mit der Verschärfung der Krise in Europa ist bei vielen GewerkschafterInnen das Interesse an der Arbeiterselbstverwaltung von Betrieben neu erwacht. Das zeigt sich u.a. am relativ breiten Echo, das die Übernahme der Baustoff-Fabrik Vio.Me im griechischen Thessaloniki1 durch die Belegschaft gefunden hat. Wieder scheint die Idee der selbstverwalteten Produktion als Alternative zum Jobverlust in der Krise attraktiv für Teile der Klasse zu werden. Manche mögen sich auch an die ArbeiterInnen der Keramikfabrik Zanon und etlicher anderer Betriebe erinnert fühlen, die im Zuge der argentinischen Krise von 2001/2002 ihre Betriebe übernommen haben.2
Für die traditionellen Gewerkschaften hat die Idee der Arbeiterselbstverwaltung in den letzten hundert Jahren eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Die klassische Trade Union will lediglich den Mehrwert aus der kapitalistischen Produktion etwas anders verteilen. An einer Änderung der Besitz- oder Machtverhältnisse hat sie kein besonderes Interesse. Für die anarcho-syndikalistischen Gewerkschaftsbewegungen war die Frage der Arbeiterselbstverwaltung hingegen immer wieder ein großes Thema. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die gesellschaftliche Perspektive dieser Gewerkschaften der libertäre Kommunismus ist, eine Gesellschaft also, die sich auf eine von ProduzentInnen und KonsumentInnen selbstverwaltete Güterproduktion und Güterverteilung gründet.
Ideologische Überhöhung
Während allerdings in der generellen Frage weitgehende Einigkeit herrscht, gibt es hinsichtlich aktueller betrieblicher Selbstverwaltungsexperimente ganz unterschiedliche Diskussionen und Einstellungen. Immer wieder trifft man etwa auf eine regelrechte ideologische Überhöhung der Selbstverwaltung. Dahinter steckt die Vorstellung, es bräuchte nur genügend selbstverwaltete Betriebe als lebendiges Gegenbeispiel zum kapitalistischen Normalbetrieb und schon geriete die kapitalistische Form der Vergesellschaftung ins Wanken. Viele BefürworterInnen einer derartigen Selbstverwaltungs-Ideologie blenden allerdings aus, dass Arbeiterselbstverwaltung im Rahmen des kapitalistischen Weltmarktes zwangsläufig immer den Bewegungsgesetzen dieses Marktes unterworfen ist.
An dieser Tatsache ist in der Vergangenheit die übergroße Mehrheit der selbstverwalteten Betriebe gescheitert. Ein gutes Beispiel hierfür bieten hierzulande die 1980er Jahre. Damals gab es in der Nachfolge der Revolte von 1968 hunderte von selbstverwalteten Betrieben, die meisten im Dienstleistungsbereich, einige aber auch als Handwerks- oder andere Produktionsbetriebe. Viele davon, wenn auch nicht alle, verstanden sich ganz ausdrücklich als hierarchiefreie Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaft, in denen die übliche Ausbeutung der Arbeitskraft anderer abgeschafft war und nur Leute arbeiten konnten, die gleichzeitig auch EignerInnen waren. Binnen weniger Jahre zeigte sich aber bei den meisten selbstverwalteten Betrieben, dass politischer Enthusiasmus die Marktzwänge nicht aushebeln kann. Fast alle wurden nach kapitalistischen Maßstäben unterkapitalisiert gegründet. Was an Kapital fehlte, musste durch Mehrarbeit der KollektivistInnen ausgeglichen werden. Das führte dazu, dass meistens die Löhne so niedrig waren, dass man mit Recht von einer Selbstausbeutung sprechen kann. Längere Arbeitszeiten bedeuteten, dass man weniger Zeit und Energie für den Versuch hatte, die bestehenden Verhältnisse umzustürzen. Manche Betriebe verbrannten schnell die meiste Zeit und Energie mit der eigenen Selbstverwaltung. Aus diesen und anderen Gründen gab es häufig nicht genug InteressentInnen, die für die Aussicht auf lange Arbeitszeiten und geringe Gehälter bereit waren, zum Kollektivisten bzw. zur Teilhaberin eines Betriebes zu werden, um dort zu arbeiten. In der Folge wurden aus vielen Betrieben „Geschäftsführerkollektive“, in denen die ChefInnen die usprünglichen Mitglieder der Selbstverwaltung waren, die anderen Beschäftigten aber reguläre LohnarbeiterInnen. Die meisten selbstverwalteten Betriebe „professionalisierten“ sich, um sich den Marktgesetzen anzupassen oder gingen an diesen und ihren eigenen Widersprüchen zugrunde.
Genossenschaften ohne GenossInnen
In viel größerem Maßstab noch hat sich die Gewalt dieses „stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse“ am (gewerkschaftlichen) Genossenschaftswesen gezeigt. Genossenschaften haben nicht notwendigerweise etwas mit Selbstverwaltung zu tun. Selbstverwaltung im anarcho-syndikalistischen Sinn ist nicht zuletzt die Frage nach der Kontrolle der ArbeiterInnen über ihre Produktion. In einem selbstverwalteten Betrieb entscheiden alle gemeinsam, was und wie produziert wird und was mit dem Ertrag aus der Arbeit geschieht. Das beinhaltet, dass alle, die in einem selbstverwalteten Betrieb arbeiten, auch an diesem beteiligt sein sollen. Genossenschaften hingegen sind zuallererst eine Rechtsform für gemeinsamen Kapitalbesitz mit erweiterten Mitspracherechten – aber auch Pflichten – für die KapitaleignerInnen. Die Form der Genossenschaft besagt also nichts darüber, wie die Arbeit organisiert ist. So machte es beispielsweise für die ArbeiterInnen des polnischen Haushaltsgeräte-Konzerns Fagor3 keinen großen Unterschied, dass die Firma von Mondragon und damit dem weltgrößten genossenschaftlichen Unternehmen (mehr als 100.000 Beschäftigte) mit Sitz in Spanien, günstig aufgekauft wurde. Ähnlich wie viele große Genossenschaften im Wohnungsbau-, Banken- und Konsumsektor hierzulande, agieren solche Firmen aus Sicht der Beschäftigten als normale kapitalistische Marktteilnehmerinnen.
Wenn in diesem Artikel die Selbstverwaltungsideologie kritisch hinterfragt wird, bedeutet dies nicht, dass wir Arbeiterselbstverwaltung unter Bedingungen des kapitalistischen Weltmarktes für überflüssig oder gar schädlich halten. Sie hat durchaus ihre Berechtigung und kann als Beispiel dienen. Zu einer kritisch-solidarischen Unterstützung sollte allerdings die Erkenntnis gehören, dass es sich bei Arbeiterselbstverwaltungs-Experimenten nur um eine Nische und nicht um eine generelle Strategie handeln kann. Solche Experimente unter dem enormen Druck des kapitalistischen Marktes verlangen allen Beteiligten viel ab. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass es nur zu einfach und bequem ist, sich dem Zwang zur Professionalisierung, zur Anpassung und zur Abgabe der eigenen Verantwortung zu ergeben. Hier könnte eine in den selbstverwalteten Betrieben verankerte anarcho-syndikalistische Gewerkschaft ein wichtiges Korrektiv darstellen. Doch das ist eine Diskussion, die noch zu führen ist.
Zum Weiterlesen:
[1] www.viome.org und biom-metal.blogspot.gr
[2] www.ila-bonn.de/artikel/ila357/argentinien_zanon.htm
[3] libcom.org/forums/news/mondragon-capitalists-exploitation-repression-poland-20072008
Ein Buchtipp:
Notz, Gisela: Theorien alternativen Wirtschaftens, Reihe theorie.org im Schmetterling Verlag, ISBN 3-89657-660-7