Als Präsident Recep Tayyip Erdogan, Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und das gesamte türkische Regierungskabinett im Januar 2015 einen Streik in der Metallindustrie zu einer „Gefahr für die nationale Sicherheit“ erklärten, schufen sie klare Fronten. Mit ihrer Anwendung der sogenannten „Vereinbarungen zu Gewerkschaften und kollektiven Arbeitsangelegenheiten“ greife die Regierung auf Methoden der Militärjunta aus den 80er Jahren zurück, kommentierte etwa Arzu Çerkezoglu, Generalsekretär der Konföderation der progressiven türkischen Gewerkschaften DISK. Dem historischen Vergleich entsprechend viel auch Çerkezoglus Rhetorik aus: „Das Streikrecht wird durch die Verfassung geschützt. […] Diese Handlung der Regierung ist ein Putsch gegen grundlegende Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter.“ Die von der Regierung ins Feld geführte Sorge um eine „nationale Sicherheit“ bezeichnete Çerkezoglu als die Sorge um die Sicherheit „der Arbeitgeber und der gelben Gewerkschaften“. Drastisch drückte sich auch der stellvertretende Generalsekretär des internationalen Gewerkschaftsbundes IndustriALL, Kemal Özkan aus: „Das Streikrecht existiert in der Türkei nicht mehr.“ Das umstrittene Gesetz gibt der Regierung die Möglichkeit, Streiks für 60 Tage zu unterbinden. Nach Ablauf dieser Frist muss innerhalb von sechs Werktagen eine Vereinbarung gefunden werden – ansonsten wird die betreffende Gewerkschaft als nicht mehr zuständig eingestuft.
Dass sich die Regierung überhaupt zu einem derart schwerwiegenden Schritt gezwungen sah, der unangenehme Konfliktlinien auch mit dem kemalistisch-autoritären Milieu der sozialdemokratischen CHP aufriss und die Regierung Erdogan (erneut) vor dem internationalen Pranger stehen ließ, dürfte eine Ausnahme bleiben. Die Metallindustrie ist ein historisch gewachsener Wirtschaftszweig mit tradierten Organisationsabläufen, trotz aller neoliberalen Reformen in der Türkei in den letzten Jahren immer noch relativ vielen staatlich Beschäftigten sowie der zementierten Macht einiger Platzhirschunternehmen. Die bislang noch einigermaßen verteidigten unbefristeten Beschäftigungsverhältnisse können nicht ohne weiteres angetastet werden und bilden die Voraussetzung für eine flächendeckende Organisierung. Diese Voraussetzungen zu zerschlagen, könnte auch das Kalkül der Aggression der Regierung sein. Viel Aufsehen erregten bereits die Razzien und Festnahmen im April letzten Jahres gegen die Spartengewerkschaft Birlesik Metal Is, eine kämpferische Organisation von MetallarbeiterInnen, bei denen es vorgeblich um Straftaten im Kontext der Taksimplatz-Besetzung 2013 ging. Das die Gewerkschaft erst kurz zuvor intensiv Streikstimmung verbreitet hatte, dürfte keineswegs ein Zufall gewesen sein, zumal den betroffenen GewerkschafterInnen konkrete Straftaten kaum vorgeworfen werden konnten. Es wird bereits befürchtet, die AKP Regierung versuche gegenüber den MetallarbeiterInnen ein Szenario wie in Thatchers Großbritannien von 1984/1985 zu schaffen, als der britische Staat bewusst einen harten Konflikt mit den BergarbeiterInnnen in Kauf nahm, um an ihnen ein Exempel für die gesamte Gewerkschaftsbewegung zu statuieren. Heraus kam eine seinerzeit beispiellose Kultur der Befristung von Beschäftigungsverhältnissen und der Leiharbeit in so gut wie allen Branchen.
Leben in Istanbul für 330 Euro im Monat – unmöglich
Der Vergleich mit dem Cole Miners Strike gegen Thatcher mag – das wird die nähere Zukunft zeigen – gegenüber Wirtschaftszweigen wie der Metallindustrie angebracht sein. Für einen Großteil der türkischen Arbeitswelt ist brutaler Neoliberalismus jedoch bereits lange Realität. Im Maltepe Universitätskrankenhaus in Istanbul werden Pflege- und Reinigungskräfte grundsätzlich nur über ein dichtes, unübersichtliches Netz an Subunternehmen eingestellt – oder werden, ähnlich den deutschen Werkverträgen, einfach selbst als solche angesehen, obwohl sie lediglich ihre eigene Arbeitskraft direkt an das Krankenhaus verkaufen. Dies entbindet die Krankenhäuser nicht bloß von jeglichen Sozialleistungen, sondern bringt die Beschäftigten in eine äußerst schwierige Position gegenüber der Krankenhausleitung, da ein klassischer Arbeitsvertrag mit Kündigungsfristen schlicht fehlt. Das Krankenhaus hat so alle Mittel zur Hand, um die Löhne auf ein skandalös niedriges Niveau zu drücken. Viele verdienen sich im Anschluss an ihre Schicht notgedrungen als TaxifahrerInnen oder Haushaltshilfen noch ein paar Lira hinzu. Krankenhausmitarbeiter Inan Haspola erzählt, er komme unter der Woche so im Schnitt auf etwa zwei Stunden Schlaf pro Tag. Solch gesundheitsgefährdende Zustände sind für viele seiner Kolleginnen und Kollegen langjähriger Alltag: Von den 330 Euro, die eine outgesourcte Pflegekraft im Universitätsklinikum verdient, ist ein Leben in Istanbul, der teuersten Stadt der Türkei, schlicht unmöglich. Das Ausüben von ebenso oder gar noch schlechter bezahlten Zweitjobs ist da die einzige Möglichkeit, um über die Runden zu kommen.
Trotz und wegen der schlechten Voraussetzungen – Überarbeitung, kaum Zeit, aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses de facto fehlendes Arbeitsrecht – beschlossen knapp hundert Beschäftigte des Maltepe Krankenhauses, sich gewerkschaftlich in der Dev Saglık-Is zu organisieren. Eine von ihnen ist Sehriban Kaya: „Wir kamen an den Punkt, an dem wir aus Überarbeitung brechen mussten. Mit unserer letzten Kraft schlossen wir uns als Gewerkschaft zusammen. Hier geht es wirklich darum, dass wir unsere einfachsten Bedürfnisse artikulieren.“ Das Management des Krankenhauses regierte beinahe erwartungsgemäß: Nachdem ein Angebot, beim Wiederaustritt aus der Gewerkschaft 200 Lira mehr Gehalt zu bekommen, kollektiv ausgeschlagen wurde, wurden alle 98 Gewerkschaftsmitglieder des Krankenhauses auf einen Schlag entlassen.