Umherschweifende Prekäre

Die „Precarias“ leisteten während des vergangenen Generalstreiks militante Untersuchungsarbeit. (Bildquelle: anarchosyndikalismus.blogsport.de)

Die „Precarias a la deriva“ sind eine Frauengruppe, die sich im Juni 2002 während des damaligen spanischen Generalstreiks gegründet hat. Sinngemäß bedeutet ihr Name „die (weiblichen) Prekären, die sich treiben lassen“, oder auch die „(weiblichen) Prekären in Verschiebung“ – der Name ist auch eine Anspielung auf den Schlüsselbegriff derive der SituationistInnen. Die Frage, die das vorliegende Buch leitet, „Was ist dein Streik?“ stellten die Precarias während des Generalstreiks in Spanien 2011. Anstatt nur „Streikposten zu stehen“ begannen sie, durch die Stadt zu streifen und Fragen zu stellen, sie begannen eine militante Untersuchung in Tradition des italienischen Operaismus, um, wie es die HerausgeberInnen der deutschen Übersetzung ausdrücken, „voneinander zu wissen“, also um Erfahrungen auszutauschen und so eine Basis für Solidarität und gemeinsames Handeln wiederherzustellen.

Ausgangspunkt der Precarias war dabei die Feststellung, dass es durch den Wandel der Arbeitsgesellschaft eben nicht mehr die „ArbeiterInnen“ seien, die „im Zentrum der (industriellen) gesellschaftlichen Verhältnisse zu verorten“ seien „und die den Generalstreik folglich als ausgezeichneten Hebel zur Unterbrechung, zur Transformation oder zum Umsturz dieser Verhältnisse erscheinen lassen konnte[n]“ (S.14 f.).

Die Idee, durch einen Streik die Verhältnisse zu ändern, setzt ein mächtiges und organisiertes Proletariat voraus. Der Aspekt, dass Arbeit für das Existieren des Kapitalismus notwendig ist und der kollektive Entzug dieser Arbeit eine zentrale Möglichkeit zur Veränderung darstellt, ist so richtig wie eh und je – davon zeugt eine momentane, zuvor nie dagewesene globale Streikwelle.1 Sehen wir davon ab, dass der Begriff der ArbeiterInnen in der Analyse der Precarias hier offensichtlich einen sehr marxistisch-identitären Begriff des weißen Industriearbeiters in lebenslanger Vollbeschäftigung meint, so ist die Kritik dennoch berechtigt – und als Verfechter des Generalstreiks trifft sie insbesondere auch den Anarchosyndikalismus: Wenn es in der gewerkschaftlichen und speziell syndikalistischen Streiktheorie im Wesentlichen um die potentielle Macht der ArbeiterInnen geht, was ist dann mit all jenen, die nur wenig von dieser Macht haben und deswegen für bisherige Streikmodelle entweder keine Rolle spielten oder unter „ferner liefen“ abgekartet werden? Darunter fallen heutzutage z.B. LeiharbeiterInnen, prekär Beschäftigte, Schein- und Soloselbständige.2

Die Entdeckung der Gemeinsamkeit

Die Precarias gehen davon aus, dass die neuen Fragmente der Arbeiterklasse nicht von vornherein etwas gemeinsam haben, sondern dass dieses Gemeinsame erst entdeckt werden muss. Das Konzept der militanten Untersuchung führen sie dabei auch zurück auf die zapatistische Formulierung „Fragend schreiten wir voran“. Dabei berücksichtigen sie in starker Weise das Geschlechterverhältnis und auch die Komponenten des Rassismus, ohne den Fehler zu begehen, diese Aspekte losgelöst vom Kapitalismus zu betrachten. Die Precarias liefern eine Analyse, die von einer nicht rein ökonomischen Prekarisierung ausgeht und schlagen gegen eine ausschließende Bürgerschaft (ciudadanía) eine „Sorgegemeinschaft“ (cuidadanía) vor, die erst durch Erfahrungsaustausch entstehen kann, und durch die eine damit einhergehende Dekonstruktion herrschender Zwiespälte erreicht werden kann. Der Vorschlag einer Sorgegemeinschaft lässt ein sehr schlichtes, aber ebenso wichtiges Charakteristikum der traditionellen Arbeiterbewegung wieder in den Fokus rücken: die Solidarität. Diese Sorgegemeinschaft – letztlich eine sich durch Austausch selber bewusst gewordenen, miteinander solidarischen Unterklasse von Prekären soll auf den drei Säulen einer sozialen, politischen und ökonomischen Organisation (S.114) stehen.

Es ist kein Zufall, dass solche Aktualisierungen einer Streiktheorie aus den Ländern kommen, in denen die anarchosyndikalistische und allgemeiner, die antiautoritäre Tradition, prägend war und ist. Georges Sorel hat dem Streik seine Macht zugeschrieben aufgrund des Mythos, als einer Art heroischer, vergangener Schlacht, auf der eine bestimmte Identität – die der „bewussten“ (Industrie)Arbeiterklasse – basiere. In Spanien, Italien und Griechenland ist der Generalstreik längst ein Mythos in diesem Sinne und die Vergesslichkeit gegenüber den migrantischen, weiblichen und allgemein prekären Spezifika des Proletariats weist genau darauf hin, wie problematisch der Sorelsche Streikmythos ist. Letztlich brauchen wir keine heldenhaften Streikschlachten, sondern die individuelle Phantasie in gegenseitigem Austausch, um auch die syndikalistische Idee des Streiks und des Generalstreiks zu erneuern.

Als wertvollen Beitrag dazu darf man den vorliegenden Band werten. Die aufgeworfene Frage, wie es sich als Prekäre(r) – möglichst noch erfolgreich – streiken lässt, ist nicht nur eine notwendige Frage für eine Aktualisierung des Syndikalismus, sondern darüber hinaus geht es darum, ob eine Arbeiterbewegung fähig ist, sich ganz neu zu erfinden.


„Precarias a la deriva“

Precarias a la deriva: Was ist dein Streik? Militante Streifzüge
durch die Kreisläufe der Prekarität. Aus dem Spanischen von Birgit
Mennel. Eingeleitet von Birgit Mennel und Stefan Nowotny. Turia + Kant,
Wien/Berlin 2011. 184 Seiten, 14 Euro.


 

Anmerkungen

[1] Colatrella,
Steve: In unseren Händen liegt eine Macht. Eine weltweite Streikwelle,
Sparprogramme und die politische Krise der Global Governance. In:
Wildcat Nr. 90, Sommer 2011. S.53 – 60. Online unter: www.wildcat-www.de/wildcat/90/w90_in_our_hands.html

[2]
Neben den „Precarias a la deriva“ haben sich diese Frage auch die
italienischen „Generalstände der Prekarität“ gestellt und einen
entsprechenden Fragebogen erstellt: Koweindl, Daniela und www.scioperoprecario.org:
Der prekäre Streik. In Italien experimentieren AktivistInnen mit immer
neuen Ideen im Kampf für ein gutes Leben. In: Bildpunkt. Zeitschrift der
IG Bildende Kunst. Herbst/Winter 2011. S.19 f. Online unter: www.igbildendekunst.at/bildpunkt/2011/anarchivieren/koweindl

 

Der Fragebogen findet sich unter: www.labournet.de/internationales/it/prekaererstreik2.pdf

 

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