Beben und Nachbeben

Die Geschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte seiner Krisen. Das haben die beiden Rauschebärte Marx und Engels schon 1847 klar beschrieben: „So hat seit dem Anfang dieses [19.] Jahrhunderts der Zustand der Industrie fortwährend zwischen Epochen der Prosperität [der Blüte] und Epochen der Krise geschwankt, und fast regelmäßig alle fünf bis sieben Jahre ist eine solche Krisis eingetreten, welche jedesmal mit dem größten Elend der Arbeiter, mit allgemeiner revolutionärer Aufregung und mit der größten Gefahr für den ganzen bestehenden Zustand verknüpft war.“ („Grundsätze des Kommunismus“, in: MEW, Bd. 4) Genau so sieht die Geschichte des weltweit herrschenden Wirtschaftssystems auch im Jahre 2008 wieder aus: 1997 Börsencrash in Asien, 2001 Enron- Pleite und das Platzen der New-Economy- Blase, 2007 US-Immobilien-Crash, 2008 Nahrungsmittelkrise.

Was wir momentan erleben, ist der Zusammenbruch vielleicht nicht des Wirtschaftssystems, aber zumindest seines Gefüges, wie es sich seit 1990 entwickelt hat, und seiner Ideologie. Zwei Zitate machen das deutlich:

Der Top-Manager der Deutschen Bank, Josef Ackermann, Galionsfigur der deutschen Wirtschaft, ruft im März 2008 Vater Staat zur Hilfe: „Ich glaube nicht mehr an die Selbstheilungskräfte der Märkte. Es ist illusorisch zu glauben, dass wir warten können, bis der Markt wieder ins Gleichgewicht findet.“ (Die Welt) Und der Staat pumpt Milliarden in marode Banken wie WestLB, BayernLB, IKB – Milliarden, die in den kommenden Jahrzehnten für Kindergartenplätze, sozialen Wohnungsbau, Arbeitslosenversicherung und Renten fehlen werden. Weil sie wissen, dass der Zusammenbruch einer Bank momentan immer eine Lawine ins Rollen bringen kann. Weil die Verflechtungen durch Finanztransaktionen, die niemand mehr überblickt, jederzeit überall auf der Welt Erschütterungen hervorrufen können und hervorrufen. Niemand weiß, wann und wo als Nächstes. Mit Bear Sterns ist im März z.B. eines der größten Bank- und Investment- Häuser der New Yorker Wall Street kollabiert und konnte nur durch eine konzertierte Aktion von Notenbank und Konkur renz (Übernahme durch Morgan Stanley) notdürftig gestützt werden.

Den zweiten Hinweis liefert eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung, einer der wichtigsten Meinungsmache-Agenturen für einen neoliberalen Kapitalismus in Deutschland, veröffentlicht im Dezember 2007: „Trotz anhaltenden Aufschwungs sind nur noch 15 Prozent der Bürger der Meinung, dass die Verteilung in Deutschland gerecht ist – ein neuer historischer Tiefststand.“ („Soziale Gerechtigkeit 2007. Ergebnisse einer repräsentativen Bürgerumfrage“)

Nun kommt wie aus dem Nichts eine globale Hungerkatastrophe angeschossen, die unvermittelt und direkt regionale Hungeraufstände von Haiti, Westafrika, Ägypten bis Lateinamerika zur Folge hat. Hatte man nicht die Weltklimakatastrophe oder die Wasserknappheit als neue globale Top-Bedrohungs-Szenarien aufgebaut? Woher kommt jetzt das? Dieser altmodische Hunger?

Nur sehr selten dringt ein direkter Zusammenhang zum Platzen der US-Immobilienblase durch die Medien-Diktatur der scheinbaren Vielfalt, wohl auch, um die Zustimmung zum System nicht weiter zu erschüttern. So berichtet Jean Ziegler, Schweizer Publizist und „UN-Sonderbotschafter für das Recht auf Nahrung“ in einem Radio-Interview des WDR am 14. April 2008: „In der Finanzkrise der letzten zwei Monate wurden über tausend Milliarden Vermögenswerte an den Börsen vernichtet und eine große Zahl von Hedgefonds von institutionellen Investoren ist auf die Commodity Stock Exchance in Chicago umgestiegen, also auf die Spekulation und Investitionen in Agrarrohstoffe. Und diese Spekulation auf Agrarrohstoffe, die ganz massiv Anfang März eingesetzt hat, hat noch einmal die Preise in die Höhe getrieben.“

Die Schweizer Wochenzeitung WoZ berichtet, dass die niederländische Bank ABM Amro vor einiger Zeit in ganzseitigen Zeitungsinseraten mit folgendem Text für ihre „strukturierten Finanzprodukte“ im Agrarsektor warb: „Verschiedene Gründe sprechen für eine Investition: weltweit stagnierende Getreideanbauflächen, eine deutlich gewachsene Weltbevölkerung, veränderte Essgewohnheiten in den aufstrebenden Schwellenländern sowie die stetig steigende Nachfrage nach Biotreibstoffen.“ Das seien, so kommentiert die WoZ, sichere Voraussetzungen für nachhaltig steigende Preise und satte Gewinne, und es seien sichere Voraussetzungen für kommende Hungersnöte.

Es wäre zu kurz gegriffen, zu glauben, dass jenes frei gewordene Risiko-Kapital, welches – gewohnt an Renditen von durchaus 20% – nun hilflos und in riesigen Mengen auf der Suche nach neuen Investitionsfeldern um den Erdball schweift, den Hunger spontan geschaffen habe. Es hat den Hunger gegenwärtig „nur“ durch Spekulation enorm verschärft. Experten munkeln von 20-30% Spekulationsanteil der derzeitigen Preisexplosion. Genaue Zahlen? Fehlanzeige.

Klar wird, dass nicht nur Agrar- Rohstoffe knapp sind in diesen Zeiten, sondern dass auch das Wissen um die Funktionsweise der kapitalistischen Klassengesellschaft bei radikalen Linken wie in der bürgerlichen Presse gleichermaßen weitgehend verschüttet ist. Es dürfte sich lohnen, wieder mit einem offenen Blick für die realen Entwicklungen politische Ökonomie zu studieren!

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