Dies ist der zweite Teil des Artikels Tour de Farce, der erste Teil erschien in der DA 219.
Die strukturelle Gewalt, die über die verschärft mehrwertorientierte Organisation der Arbeit in Frankreich ausgeübt wird, erfährt ihre dramatische Sichtbarwerdung unter anderem in den Selbsttötungen von Lohnabhängigen, wie in der letzten Ausgabe anhand des von der Basisgewerkschaft Sud-PTT veröffentlichten Abschiedsbrief des 55-jährigen Postangestellten Francis veranschaulicht wurde. Gerade in großen Unternehmen (privat, staatlich oder halbprivatisiert) mit einer arbeitsrechtlich starken Stammbelegschaft wird aufgrund der nicht zu verhehlenden Konfliktträchtigkeit der Restrukturierung der Arbeit der heftige Druck deutlich, der zur Abfederung der Akkumulationskrise des französischen Kapitals auf Angestellte und ArbeiterInnen aufgebaut wird. Bei der Post mit ihren 250.000 Angestellten soll die Arbeitsorganisation dazu dienen, gerade die festangestellten Beschäftigten zu verunsichern und dazu zu bringen, selbst aufzugeben und das Unternehmen zu verlassen. Zumeist können sie nicht einfach gekündigt werden – aber sie können ihren festen Arbeitsplatz verlieren. Sie sind dann sogenannte „agents volants“, frei verfügbare und jederzeit einsetzbare beweglichen Arbeitskräfte im Nirgendwo, ohne festen Ort. Die individuellen Konflikte zwischen den Angestellten und ihren Vorgesetzten, die sich aus solchen drastischen Veränderungen des Arbeitsplatzes ergeben, führen dann zu eben jenem Psychoterror, den schließlich auch Francis in seinem Abschiedsbrief bitter beklagte.
Dort, wo es die Rahmenbedingungen und die Verfassung der Beschäftigten erlauben, gibt es auch Widerstand, mal auf individueller, mal auf kollektiver Ebene: Ein Teil verweigert sich und wird auf Dauer krankgeschrieben oder sabotiert durch verstecktes Nichtstun, ein anderer Teil fängt an, militant zu werden und organisiert sich in Gewerkschaften und verhält sich alltäglich offen widerspenstig. Viel Wirbel innerhalb und außerhalb der Post machte vor Kurzem eine kleine Alltagsgeschichte, nachdem ein Postbeschäftigter eine erhaltene Abmahnung veröffentlichte. Neben der Briefpost hatte er für einige ältere Bewohner in abgelegenen Dörfern der Pyrenäen zumeist noch Zigaretten und Lebensmittel aus der Stadt auf seinem Postvertriebsweg mitgebracht. Dies wurde als „unproduktive Tätigkeiten“ von einem von der Postleitung extra bestellten Kontrolleur erfasst, was dann zur Abmahnung durch die Vorgesetzten führte. Da die „Unproduktivität“ aber aus einer Tätigkeit für das Allgemeinwohl bestand, erfuhr die Widerspenstigkeit des Postangestellten große Sympathien und löste eine öffentliche Debatte aus.
Die Unzufriedenheit im Job nimmt in Frankreich über regionale und betriebliche Grenzen hinweg zu. Ähnlich wie bei der letzten großen Bewegung gegen ein späteres Renteneintrittsalter im Jahr 2010 herrscht in Frankreich ein explosives Klima vor, da die Unzufriedenheit über marginalisierte Gruppen hinweg die Mehrheitsgesellschaft erfasst. In dieser haben bisher die konservativen und rechten Gruppen die Initiative ergriffen, z.B. gegen die gleichgeschlechtliche Ehe. Gewerkschaftsgruppen wie die CNT, die Solidaires-Basisgewerkschaften und die CGT richten ihren Fokus jenseits der Parteipolitik jedoch auf die konkreten Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz. Bei diesen geht es im Kern um die enorme Arbeitsdichte bei gleichzeitiger Verringerung des Personals und der Belegschaften. Dabei kritisieren sie auch die namentlich Verantwortlichen in den Leitungen der Unternehmen für ihr Vorgehen und ihre Methoden – die ständigen Schikanen, die Bewertungen, das Schaffen einer permanenten Konkurrenzsituation unter den Beschäftigten, die oftmals in panische Angst vor Entwertung, Herabsetzung und Demütigung umschlägt. In mehreren von Gewerkschaften und Einzelpersonen angestrebten Gerichtsprozessen wurden ManagerInnen verurteilt, die stellvertretend diese Maßnahmen verantwortet haben. Zusammen mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen vergrößern sich so die Möglichkeiten zur Gegenwehr der Betroffenen.