Victor Hugo, Julius Cäsar und die blauen Augen der Schwalben

1995, mit 53 Jahren, veröffentlicht Dominque Manotti ihren ersten Roman. „Spät, und nicht aus Berufung“, erklärt sie, „sondern eher aus Verzweiflung“ über die Entwicklung einer Gesellschaft, die ihre Generation vergeblich zu verändern versucht habe. Ihre politische Erfahrung und analytische Praxis als (Wirtschafts-)Historikerin liefern der Politkrimiautorin das Instrumentarium, mit dem sie der Gesellschaft so präzise wie gnadenlos den Spiegel vorhält. Ihr neuester in deutscher Übersetzung erschienener Roman führt die KrimiZEIT-Bestenliste im August 2013 an. Während der H(amburger) E(nergie) W(echsel)*-Lesetage 2013 las und diskutierte sie im Buchladen Osterstrasse. Jorinde Reznikoff sprach mit ihr. 1

„Le refus de parvenir“ – Verweigerung von Erfolg als Selbstzweck sei die Devise der revolutionären SyndikalistInnen im Frankreich vor dem 1. Weltkrieg gewesen, eine Devise, an die Dominique Manotti sich stets gehalten hat2. Allerdings sei es für sie als Lehrerin mit einem festen Gehalt natürlich ein Leichtes gewesen, sich ihren absoluten Freiheitsraum zum Schreiben zu bewahren, ohne davon leben zu müssen. Erfolg hat sie allerdings.

Dominique, mit bürgerlichem Namen Marie-Noëlle Thibault, spricht in einem gestochen scharfen Französisch mit der ihr eigenen kompromisslosen Deutlichkeit. Die Sorge um Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit treibt sie an. Immer noch und trotz der Hoffnungslosigkeit, die sich ihr mit bleierner Schwere auf alle Fragen nach der Zukunft legt, die zu stellen ich allerdings nicht müde werde.

Quelle: KP Flügel

In der Gewerkschaft stand sie lange Jahre an führender Stelle, im Widerstand gegen den Algerienkrieg war sie aktiv, in der StudentInnenrevolte, ohne präzises Engagement ist sie undenkbar. Geschichte hat sie studiert und unterrichtet, Wirtschaftsgeschichte mit besonderem Blick auf die technischen und sozialen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts, die ArbeiterInnenbewegung. Doch ihr politisches Engagement sieht sie als gescheitert an. Deshalb beginnt sie, mit 50 Jahren Kriminalromane zu schreiben. Denn „der Politkrimi, der roman noir, sei die große Literatur des 20. Jahrhunderts. Leider.“

Der roman noir, wortwörtlich der „schwarze Roman“, trete immer in Zeiten des Niedergangs auf. So sei das Genre „in den Staaten zur Zeit der großen Depression“ überhaupt entstanden. „Vorher gibt es diese Art von Literatur nicht.“ Das verdeutliche ihr Begründer und „Papst“ Dashiell Hammett. Er zeichne eine amerikanische Stadt so, dass diese Stadt als Verbrechen deutlich werde. „Ihre Ordnung selbst ist das Verbrechen.“ Am Ende der Untersuchung durch den bezeichnenderweise namenlos bleibenden Detektiv wisse man, dass die Stadt sofort wieder mit dem gleichen Verbrechen beginne. „Es gibt keine Wiederherstellung der Ordnung.“ Hier arbeite der Roman wie eine Art Skalpell, um aufzuzeigen, was die kriminelle Ordnung sei, und dass sie sich nicht ändere.

Das reflektiere eine total andere Vision als der klassische Krimi, der eigentlich ein Detektivroman sei, ein populäres Genre, das die Lesenden von vorne herein in der Sicherheit wiege, dass die angegriffene Ordnung wiederhergestellt werde. Diese Form erscheine das erste Mal im 19. Jahrhundert als literarischer Ausdruck der Philosophie der Aufklärung und des aufkommenden Nationalstaats. Denn für diese Gattung „sind folgende drei Dinge nötig: ein Rechtsstaat, eine Polizei, eine Rationalität.“ In einem religiösen Staat oder einer Monarchie könne es keinen Kriminalroman geben. Denn hier entschieden der Monarch oder die religiöse Macht darüber, was Recht sei. Demgemäß habe es auch unter Stalin und Hitler keinen Kriminalroman geben können.

Seine stereotype „Grundstruktur ist von vorneherein vorhanden und sichtbar: Das Verbrechen, die Untersuchung, die Lösung.“ Und diese klare Form erleichtere die Lektüre, mache sie zu „einem populären Genre“, für Menschen, die wenig lesen, eine Hilfe.

„Am Anfang macht sich der Leser Angst, dann hängt er sich an die Untersuchung, am Schluss ist er wieder in Sicherheit.“

Mit Erleichterung, Vergewisserung und imaginären Lösungen hat sie, hélas, nichts zu tun, Dominique Manotti, die Autorin des Schwarzen Korps, der Ehrenwerten Gesellschaft und des jüngsten Romans Zügellos.3

Die schwarze Kunst des Sezierens hat Dominique Manotti bei Julius Cäsar gelernt. Das erfahre ich erstaunt, als ich nach Stil und Methode ihres Schreibens forsche. Bei dieser Frage blickt Dominique hocherfreut auf und holt weiter aus.

In ihrer Schulzeit habe sie Latein gelernt, da habe sie die pragmatische politische Motivation zum Schreiben sowie die daraus resultierende knappe und genaue Erzählweise von Julius Cäsar stark geprägt. „Er führt einen Eroberungskrieg, nur um sagen zu können, dass er ihn gewonnen hat, und damit in Rom die Macht zu übernehmen.“ Zu diesem Zweck müsse er ihn überzeugend beschreiben. Der Krieg selbst sei weniger wichtig als sein Bericht, denn der werde öffentlich vor der Volksversammlung im Forum vorgelesen. „Dafür muss er an seinem Stil sehr feilen, ihn extrem einfach und sehr kurz halten.“ Man habe letztlich den Eindruck, nicht ein einziges Wort verändern zu können. „Jedes Wort hat eine Art Offensichtlichkeit. Alles ist total einleuchtend und klar. Man stößt nirgends an. Das fand ich einfach großartig!“ Im Übrigen sei Cäsar damit der erste vor George W. Bush gewesen, der einen Krieg für die „Bilder“ geführt habe.

Allergrößten Wert legt Dominique auf den populären Aspekt. Im Gegensatz zu dem noblen Cicero habe Cäsar, und nach ihm Tacitus, fürs Volk geschrieben.

Dieser Wertschätzung und ihrer Ausbildung als Historikerin gemäß habe sich ihr eigener literarischer Stil ganz natürlich entwickelt: Kurz, knapp und so direkt wie möglich, auf alles irgend Verzichtbare verzichtend. Wenn HistorikerInnen einmal das richtige Wort gefunden hätten, dann müssten sie es unbedingt beibehalten, Wiederholung in der Wortwahl sei kein Makel, sondern stehe im Dienst der Genauigkeit. Auch müsse die Handlung immer direkt und so unkompliziert wie möglich erzählt werden. Wie die Sprache müsse jede Szene, jede Aktion der Handlung dienen. Der Rhythmus folge der Intensität der Aktion, beschleunige und entspanne sich mit derselben. Verben seien also wichtig, eine Reduktion der Adjektive und weitgehender Verzicht auf Vergleiche. Lachend erzählt Dominique von einem Vergleich, der ihr das klar gemacht habe: „Blau wie die Augen der Schwalben“ habe sie in einem Buch gelesen und es sofort wieder zugeklappt. Denn wer habe je einer Schwalbe in die Augen geschaut und sie als blau identifizieren können?

Sie schreibe auch immer im Präsens, dieser viel leichteren und kürzeren französischen Zeitform im Gegensatz zu dem repetitiven schweren Imperfekt. Zudem sei das Präsens die „Zeit des Kinos“, in der AutorIn und LeserIn sich auf der gleichen Zeitebene bewegten.

Die Begeisterung, mit der Dominique Manotti erzählt, wie und weshalb sie erzählt, ist so unwiderstehlich, dass ich die Frage nach der politischen Einflussnahme von Literatur noch einmal zu stellen wage. So hoffnungslos sei das vielleicht doch nicht?! Dominique richtet sich entschieden auf: „Da bin ich ganz deutlich: Ein Roman wird niemals die Welt verändern.“ Um sogleich, etwas weicher, einzuräumen, dass es wohl doch zwei Autoren gegeben habe, die insofern einen Einfluss auf ihre sehr bewegte Epoche hatten, als sie ihr eine Stimme hätten geben können: Victor Hugo und Charles Dickens. „Die Menschen drückten sich durch ihre Worte, Bilder und Symbole aus.“ In den Staaten habe der Western genauso funktioniert. Er habe die Weise modelliert, wie die AmerikanerInnen sich selbst sahen. Und das war „ein Glücksstreich, so sahen sie sich als heroische Cowboys, nicht als selbstmordgefährdete Indianer.“ Für den aufkommenden Krimi sei dann sehr klar gewesen, dass er den Western aus der Perspektive des Privatdetektivs neu geschrieben habe. „Der Privatdetektiv ist ein Avatar des Cowboys.“ Das sei ein starkes Bild der amerikanischen Imagination. Und da habe der Schriftsteller eine Rolle.

Anmerkungen:

[1] hew-lesetage.de/programm/

[2] „Das Emporkommen zu verweigern bedeutet, weder das Handeln noch das Leben zu verweigern; es bedeutet, das Leben wie das Handeln als Selbstzweck zu verweigern.“ Albert Thierry zitiert nach J. Vidal, L’homme en proie aux enfants, Les Primaires, numéro spécial Albert Thierry. 1921. S. 377-383. (Übersetzung Jorinde Reznikoff.).

[3] Die Ehrenwerte Gesellschaft erschien 2012 im Verlag Assoziation A, Das Schwarze Korps und Zügellos 2013 bei Ariadne Kriminalroman, im Verlag Argument.

Ein Kommentar zu «Victor Hugo, Julius Cäsar und die blauen Augen der Schwalben»

Schreibe einen Kommentar