Mangel oder Überfluss?

Die deutsche Wirtschaft
beklagt regelmäßig einen vermeintlichen Fachkräftemangel in
Deutschland. So geben laut einer Umfrage des
Ifo-Wirtschaftsforschungsinstitutes 40 % der befragten Unternehmen an,
unter einem Fachkräftemangel zu leiden, zwei Drittel fürchten dies
bis 2015. Arbeitgeberpräsident Dieter Hund sieht den
Fachkräftemangel laut Spiegel
sogar „innerhalb einer Generation“ auf fünf Millionen steigen.
Insbesondere in technisch-naturwissenschaftlichen Berufen, wie etwa
IngenieurInnen, gebe es zu wenige Arbeitskräfte.

In der Regierungskoalition
werden Lösungen dafür diskutiert. So soll ein sogenanntes
Punktesystem sol den Zuzug ausländischer Fachkräfte erleichtern, da
man nicht „jeden Arbeitslosen zu einem hochqualifizierten Ingenieur
weiterbilden“ könne, so FDP-Generalsekretär Christian Lindner.
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung,
Klaus Zimmermann, fordert ebenfalls ein solches System, um
„arbeitsmarktorientierte Zuwanderung“ zu vereinfachen. Ansonsten
müssten aufgrund des Facharbeitermangels die Wochenarbeitszeiten auf
bis zu 45 Stunden erhöht werden.

Unterdessen ist jedoch der
Fachkräftemangel selbst umstritten. So sieht Karl Brenke in einer
Mitte November erschienenen DIW-Studie in manchen
„naturwissenschaftlich-technischen Berufen eher eine
Fachkräfteschwemme“ drohen. Darauf weise die trotz angeblichem
Jobwunder in vielen Branchen immer noch unter Vorkrisenniveau
befindliche Beschäftigung hin, in diesen Berufen sei der Lohnanstieg
sehr gering ausgefallen und auch die Zahl an Erwerbslosen sei immer
noch höher als vor der Krise. Zudem sei die „Zahl der
Ingenieurstudenten […] seit 2007 sprunghaft gestiegen“, und zwar
weit mehr als die Anzahl der Studierenden insgesamt. In zahlreichen
Berufen gebe es fast ebenso viele Studierende wie Beschäftigte, was
auch für die Zukunft nicht auf einen Fachkräftemangel schließen
lasse. Die Studie, die so offensichtlich der Ansicht von
DIW-Präsident Zimmermann widerspricht, erschien nach ihrer im
Spiegel veröffentlichten Besprechung in einer abgeschwächten
Version, angereichert mit einem Brenkes Fazit widersprechenden
Kommentar von Zimmermann.

Es scheint einen
politischen Willen zur Annahme eines Fachkräftemangels zu geben, der
sich in den zu seiner Beseitigung diskutierten Maßnahmen zeigt. Die
Schaffung einer „industriellen Reserve“ durch ein Überangebot
auf dem Arbeitsmarkt schwächt die Verhandlungsposition der
ArbeiterInnen in Tarifkonflikten. Zudem können sich die Unternehmen
durch die Anwerbung ausländischer Fachkräfte um ihre Verantwortung
in der Ausbildung drücken; auch für Brenke „bleibt die Vermutung,
dass die Unternehmen nur derzeit nicht mehr ausbilden, weil sie dies
wegen eines ausreichenden Fachkräfteangebotes nicht müssen“.
Allerdings ist Deutschland momentan aufgrund niedriger Löhne in
bestimmten Branchen eher Aus- als Einwanderungsland für Fachkräfte.
Ob ein Punktesystem das ändert, ist fraglich.

Sebastian
Frei

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