Am Samstag, dem 19. 10., gingen in Rom nach verschiedenen Schätzungen bis zu 70.000 Menschen anlässlich einer von Gewerkschaften und Sozialverbänden organisierten Demonstration unter dem Motto „Gegen Verarmung und Austerität“ auf die Straße. Vorangegangen war am 18. 10. ein „Generalstreik der Basisgewerkschaften“, der seine Zentren in Städten wie Florenz oder Mailand hatte. Trotz der Unterschiedlichkeit des römischen Protestes grenzte sich dieser in seiner Ganzheit – und dies ist angesichts der derzeitigen Verhältnisse in Italien durchaus erwähnenswert – offensiv gegen nationalistische Strömungen wie auch, unter dem Eindruck der jüngsten Tragödie vor Lampedusa, gegen einen Rassismus ab, der sich jenseits des starken rechten Lagers längst in der italienischen Mehrheitsgesellschaft etabliert hat. Die konservative Presse stürzte sich in bekannter Manier dann auf die Möglichkeiten, angesichts ihrer Heterogenität eine dezidiert anti-chauvinistische Krisendemonstration zu diskreditieren. So wurde allen Ortes vor jeglichen Inhalten der Demonstration die Geschichte von „Neun Anarchisten, die Messer und Schlingen mitführten und von der Polizei verhaftet wurden“ verbreitet.
Die großen Organisationen, die an der Demonstration teilnahmen, hatten auch Busse aus anderen Teilen des Landes in die Hauptstadt organisiert. Aus Rom selbst aber wurde wesentlich von Seiten der dortigen Stadteil- und Freiraumbewegungen zu der Demonstration mobilisiert. Der Slogan „Recht auf Stadt“ bekommt in einer Metropole wie Rom, die auf engem Raum durchzogen ist von tourismusindustriell nutzbaren Prachtbauten der statusverliebten Eliten der letzten zweieinhalbtausend Jahre, eine ganz andere Dimension als in den nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem sozial und ökonomisch funktional neugestalteten deutschen Großstädten. Auf den Plätzen um das Forum Romanum, auf den Brücken über den Tiber, in den Gassen des touristischen Gastro-Viertels Trastevere oder um den Campo di Fiori herrscht ein entfesselter Konkurrenzkampf um den besten Standort. Die These von der Stadt als neuer Fabrik – wie sie ja nicht zuletzt der italienische Postoperaismus um Antonio Negri prägte – wird hier scheinbar besonders nachvollziehbar: Werden die mal historisch, mal religiös, mal romantisch konnotierten Sehenswürdigkeiten der Stadt als die ihr entspringenden Waren aufgefasst, so sind die TouristInnen und das in Form von Immobilien nach Anlagemöglichkeiten wie auch Status anzeigendem Besitz suchende Kapital die Kunden. Der staatlich und kommerziell limitierte Zugang zur Mehrwertproduktion entlang der Umwandlung von Ruinen, Plätzen und Kirchen zu einer endlos vermarktbaren Ware scheint aufgrund mangelnder politischer Selbstorganisation der Menschen, die versuchen, hieran ihren Lebensunterhalt zu verdienen, in einen vergleichbaren Zustand wie bei den unorganisierten und somit schutzlosen proletarischen Massen der frühen industriellen Revolution in Europa zu münden. Kritischen RombesucherInnen wird solch ein Vergleich nicht als allzu weit hergeholt erscheinen – unübersehbar die vielen verarmten fliegenden HändlerInnen, die oftmals sichtbar verzweifelt versuchen, leuchtendes Kinderspielzeug, billigen Romkitsch, je nach Wetter Sonnenbrillen oder Regenschirme oder auch Drogen und den eigenen Körper zu verkaufen. Hinzu kommen augenfällig die biblische Leprakranke nachahmenden Bettelkolonnen rund um den Petersdom, die die katholischen BesucherInnen aus aller Welt wie den Sohn Gottes – aber eben nicht um Heilung, sondern um 50 Cent – anflehen. Nicht wenige katholische TrachtenträgerInnen, die sich eben noch vor der vatikanischen Kulisse zwecks Rumgepose auf Facebook fotografieren ließen, konsumieren anschließend jenes touristische Angebot, sich mit sehr kleinem Kleingeld der eigenen Barmherzigkeit zu vergewissern.
Die sozialen Kämpfe werden schärfer
Das Beispiel der hochgradig prekarisierten StraßenhändlerInnen und BettlerInnen Roms zeigt aber auch die Beschränkung der These von der Stadt als Fabrik des 21. Jahrhunderts auf. Denn die Essenz ihrer Prekarisierung besteht in ihrer strukturell schwachen Position innerhalb der politischen Ökonomie – die Verknappung ihrer Arbeitskraft würde die herrschenden Verhältnisse nicht in ihrer Existenz bedrohen, wie es zu Zeiten der industriellen Ära in Europa jeder ernsthafte Generalstreik tat und es heute in den industriellen Zentren Asiens und Südamerikas immer noch tun würde. Die italienische und die EU-Einwanderungspolitik halten die konstante Ethnisierung dieser früher einmal „subproletarisch“ genannten sozialen Schicht aufrecht, und so erfüllen jene Menschen vor allem den doppelten Zweck, als Arbeitsreserve für den Markt bereitzustehen und somit die Krisenängste der übrigen Bevölkerung rassistisch in einen Abwehrkampf gegen die verarmte migrantische Konkurrenz zu bündeln. SS-Runen und Hakenkreuze gehören zu den häufigsten Sprayer-Motiven an den Mauern und Häuserwänden der Stadt. Eine „Liga der Nationalen Allianz“ mobilisiert bewusst am 9. November zu einer eigenen Großdemonstration, quasi als Antwort auf die Chauvinismuskritische am 19. Oktober. Die obere Hälfte der Plakate zeigen die erstürmte Berliner Mauer, die untere ein Meer aus nationalistischen Flaggen vor dem Kolosseum. Die Bildersprache ist eindeutig jene der deutschen Neofaschisten, und wie bei ihnen wird die EU mit der Sowjetunion verglichen, selbstredend nicht zwecks der Verteidigung der Freiheit des Individuums, sondern der der Nation.
Basisgewerkschaften wie die USI-IAA und andere selbstorganisierte Zusammenhänge wie etwa die Plena der sozialen Zentren mobilisierten zu der linken Demonstration am 19. 10. mit der analytischen Verbindung der unterschiedlichsten von der ökonomischen Krise tangierten Felder. Die USI Rom rief dazu auf, sich am Einheitsblock der ArbeiterInnen aus den Sozialberufen zu beteiligen, weil deren Kampf immer auch die Belange der Allgemeinheit tangiere: Neben dem Erhalt ihrer Arbeit gehe es hierbei immer auch um Teilhabe für alle. Davon abgesehen war es in den letzten Monaten durch kämpferische Selbstorganisation gelungen, zwei römische Kitas nicht nur vor der Schließung zu bewahren, sondern den privaten Betreiberunternehmen sogar die volle Beibehaltung der Arbeitsplätze und Gehälter abzutrotzen. Durch massive Gegenwehr der Spartengewerkschaften und AnwohnerInnen konnte die Schließung der Stadtteilbibliotheken verhindert und auch ihre ungeminderte Finanzierung durchgesetzt werden. Und auch die Angestellten in den römischen Tierheimen konnten die Erfahrung machen, dass selbst in zunächst aussichtsloser Lage entschlossener Widerstand von Erfolg gekrönt sein kann – alle Arbeitsplätze wurden erhalten. Wie die USI Rom anhand solcher Beispiele betont, machte diese Erfolge die Selbstorganisation jenseits der Gewerkschaftsbürokratie, die sich meist viel zu schnell mit billigen Kompromissen abspeisen lässt, überhaupt erst möglich. Hieran orientierte sich auch ihr Aufruf zu der Demonstration: Sich nicht durch die Organisationshierarchie der Veranstaltung die Ziele und Wünsche vorschreiben zu lassen, sondern den engen Rahmen des angeblich Möglichen durch eigenes Handeln zu sprengen.
Kollektivität und Vereinzelung
Doch nicht für alle Menschen ist es überhaupt noch möglich, solche Verteilungskämpfe zu führen. Die Versprechen der kapitalistischen Ökonomie über Freiheit und Individualität entpuppten sich für eine Vielzahl von LadenbesitzerInnen in der Nähe des Campo di Fiori als Trojanisches Pferd. Im alten Handwerksviertel siedelten sich über Jahrzehnte auf einen engen Kundenrahmen spezialisierte kleine Geschäfte an, die von der Beliebtheit des Viertels in studentischen, KünstlerInnen- und TouristInnenkreisen profitierten und handgemachte Instrumente, Möbel oder Kunst und Literatur verkauften. Die meisten von ihnen sind bereits verschwunden, ersetzt durch austauschbare Souvenierläden und den Charme von Disneyland verbreitende Restaurants, die die TouristInnenströme abfangen wollen. Gentrification kippt ab einem bestimmten Punkt von Hippness in Ramschness. Massimiliano Di Giuliomaria, Inhaber des Bücherantiquariats Ardengo in der Via del Pellegrino, erzählt im Gespräch mit der Direkten Aktion, dass sich auch die TouristInnen in den letzten zehn Jahren sehr verändert hätten. Den meisten ginge es heute um eine Akkordbesichtigung von Rom, kaum eineR nehme sich noch die Zeit, sich mit den AnwohnerInnen auseinanderzusetzten. Während die Mieten in der Innenstadt ins Unermessliche stiegen, sei hier eigentlich nur noch mit Massenware Geld zu verdienen. Noch vor 15 Jahren konnte er von seinem Geschäft mit nur noch antiquarisch erhältlichen Büchern über klassische und moderne Kunst, Geschichte, Philosophie und Politik aufgrund der Durchmischtheit des Viertels gut leben. Doch heute sieht Massimiliano keine Zukunft mehr, und wie er jemals seine Schulden zurückbezahlen und wovon er im Alter einmal leben soll, ist ihm schleierhaft. „Mir bleibt nur noch die Hoffnung auf den großen Crash“, sagt er mit ernster Miene. So kämpft er einen vereinzelten und verzweifelten Kampf mit jenen Finanzinstituten, die im Zuge der Krise von Seiten der Staaten mit Milliarden gestützt wurden, ihn aber nun aufgrund der Filetlage seines Geschäfts mittels seiner Schulden von dort vertreiben wollen; gehört sein liebevoll eingerichteter Laden erst mal der Bank, wird er zu hohen Preisen an InvestorInnen verkauft werden, die aufgrund ihres Kapitals – anders als die meisten Menschen in der römischen Innenstadt – dazu in der Lage sind, sich auf die jeweils aktuellen Bedingungen des Marktes einzustellen. „Alles in dieser Gegend wird von Investoren aufgekauft, mal, um mehr Geld zu verdienen, mal schlichtweg wegen des Prestiges.“
Und so sind Schlagwörter wie über ein „Recht auf Stadt“ oder die vielbeschworenen „Kämpfe um Raum“ eben nicht verallgemeinerbar. Die antirassistischen Stadtteilprojekte und autonomen Zentren Roms erschaffen ihre Freiräume auf den Trümmern einer prekären Stadtgesellschaft. Doch hier geht es letztlich um eine – fraglos enorm wichtige – Standortgenehmigung für ein Paralleldasein. Menschen wie Massimiliano Di Giuliomaria würde eine Besetzung ihres eigenen Geschäfts, um etwa eine Zwangsräumung zu verhindern, nicht viel bringen, wären Schulden und mangelndes Einkommen doch weiterhin gegeben. Auch wenn die AktivistInnen des CSOA la Strada, die in der Woche vom 7. bis zum 14. Oktober den neunzehnten Geburtstag der Besetzung einer riesigen Halle im Stadtteil La Garbatella verglichen mit der deutschen autonomen Szene sympathisch offen mit erstaunlich gemischtem Publikum feierten, so bleiben auch sie „Szene“, anstatt eine Bewegung zu sein. Aus einer kurzzeitigen Besetzungswelle an Schulen und Universitäten ging in Trastevere wiederum vor einem Jahr das besetzte Kino America Occupata hervor; nun wird in einem großen historischen Kinokomplex alternative Kultur verwirklicht. Doch während in dem ruhigeren, kaum touristisch erschlossenen Garbatella die AktivistInnen des CSAO la Strada beim Wirken in den Stadtteil hinein mit weniger ökonomischer Macht zu ringen haben, rüsten sich im Touri-Hotspot Trastevere „Task Forces“ und eine so genannte „Superpolizei“ zum Angriff auf BettlerInnen und StraßenverkäuferInnen – die jungen AktivistInnen des „America Occupata“ werden kaum mehr als ein paar Transparente dagegen aufbringen können.