Ein Sonntagnachmittag im Tiki-Heart in Berlin-Kreuzberg. An einem Tisch erzählen sich die Mitglieder einer Oi-Band, die am Vorabend im Wild At Heart spielte, lauthals Sauf- und Prügelgeschichten, während an einem anderen Tisch Jude Rawlins sitzt und von seiner Bewunderung für die feministische Filmemacherin Maya Deren erzählt – deren „Meshes Of The Afternoon“ (1943) und „At Land“ (1944) zu den einflussreichsten amerikanischen Experimentalfilmen zählen – und seinen vor einiger Zeit entstandenen Soundtracks dazu. Eine typische Szene für das Tiki-Heart und einer der Gründe, warum es trotz Touristenschwemme wohl immer interessant und einzigartig bleiben wird.
„Das System ist eine Lüge“
Jude Rawlins ist Sänger und Songschreiber der 1992 gegründeten Londoner Art-Rock-Band Subterraneans, zuvor wirkte er Ende der 80er als Teenager bei der Indie-Band Angelhead mit. Er tourte durch die ganze Welt, arbeitete mit Billy Mackenzie (Associates), Angie Bowie, Derek Jarman, der Performance Künstlerin Judy Neville und vielen anderen mehr, weigerte sich bei Major Labels zu unterschreiben, betreibt sein eigenes Label – den konventionellen Regeln ist Jude Rawlins niemals gefolgt, er macht keine Kompromisse. Derzeit ist er außerdem noch als Gitarrist mit der Lene Lovich Band unterwegs.
In Erinnerung blieb in diesem Jahr auch und vor allem sein frühzeitiges Facebook-Posting von „Ding-Dong! The Witch Is Dead“, durch das viele noch vor dem ganzen Medienrummel von Maggie Thatchers Tod erfuhren. „Thatcher war der Abschaum der Menschheit“, sagt er, „ich kratze jetzt nur kurz an der Oberfläche und nenne einige Dinge, für die sie verantwortlich war – Falklandkrieg, Bergarbeiterstreik, Clause 28, Privatisierung der staatlichen Infrastruktur, so dass jetzt sogar Bahntickets ein Mittel sind, um die Öffentlichkeit abzuzocken. Ihre Unterstützung Pinochets und Mugabes und der Apartheid in Südafrika, Poll Tax, die Liste ist endlos. Die britische Öffentlichkeit hätte es verdient gehabt zu sehen, wie sie bestraft wird, aber das ist nicht geschehen, weil das System eine Lüge ist und keine Demokratie. Sie lebte unbehelligt bis ins hohe Alter und starb im Ritz, in einer palastartigen Umgebung. Die einzige Befriedigung ist, dass sie alleine starb. Aber ihr Begräbnis kostete zehn Millionen Pfund, und das eine Woche, nachdem Cameron die Kulturförderung um elf Millionen Pfund kürzte. Ihr Tod war eine Mahnung, was konservative Politik wirklich bedeutet, wie schlecht und eigennützig diese Leute sind.“
Kunst versus Kommerz
Zehn Alben haben Subterraneans bisher veröffentlicht, darunter ein Live-Album und einige Compilations. Im Grunde hat das Werk der Band zwei unterschiedliche Seiten: Da wären einmal die Avantgarde und Experimental-Alben, meist in Form von Soundtracks, für die Maya-Deren-Filme und für „Pandora’s Box“ von G.W.Pabst zu dessen 70-jährigem Jubiläum, andererseits eher konventionelle Rock-/Dreampop-Alben.
Von der Musikindustrie hätte er nie eine besonders hohe Meinung gehabt, so Jude Rawlins, stets hätten sie ihre eigene Plattenfirma gehabt, The Electric Label. „Seit 2006 wurden wir von Cadiz Music vertrieben“, meint er lachend, „die wiederum von Pinnacle vertrieben wurden, als wir bei ihnen unterschrieben, aber nun von Universal vertrieben werden. Also sind wir derzeit bei einem Majorlabel. Welche Ironie! Was uns natürlich absolut nichts einbringt, aber wir verursachen keine Unkosten für sie, deshalb lassen sie uns einfach machen.“ Generell gesehen hätte sich die Situation für MusikerInnen in den letzten Jahren aber deutlich verschlechtert, fügt er hinzu: „Bezahlt werden und wie Dreck behandelt werden oder nicht bezahlt werden, das sind die Alternativen, wenn mensch sich mit der Musikindustrie einlässt. Nachwuchsbands denken anfangs immer noch, dass sie eine Chance hätten, von der Musik leben zu können. Das ist eine Illusion.“ Augenblicklich arbeitet Jude Rawlins zusammen mit den anderen Bandmitgliedern Carl Homer (Gitarre), dem Bassisten Robin Phillips und Guy Evans, dem ehemaligen Schlagzeugen von Van Der Graaf Generator, an einem neuen Album.
Den Namen Subterraneans hätten sie damals gewählt, weil sie sich für „Underground“ im Sinne von „Alternative zum Mainstream“ hielten. Da sie jetzt, zwanzig Jahre später, immer noch eine Underground-Band seien, wäre es wohl die richtige Entscheidung gewesen, so Jude Rawlins. Und wenn er unbedingt eine Schublade für sich selbst wählen müsste, dann wäre „Anarchist“ wohl schon die richtige. „Im letzten Jahr habe ich Penny Rimbaud und Gee Voucher [Anm.: von Crass] besucht, ich habe den Nachmittag mit ihnen verbracht, wir haben Tee getrunken und uns unterhalten, ich befand mich in kluger und gut informierter Gesellschaft und habe das genossen. Wenn andere Menschen mich einen Anarchisten nennen wollen, ist das völlig in Ordnung. Ich glaube an Selbstregierung, und ich glaube nicht, dass es eine andere Autorität gibt außer uns selbst. Das ist für mich nicht verhandelbar. Ich denke, das macht mich in einigen grundsätzlich Punkten zum Anarchisten.“