Gemessen an den medialen Schockwellen, schlug die Nachricht Ende Januar nicht gerade ein wie eine Bombe. Dennoch könnte sie langfristig umwälzende Auswirkungen auf die hiesige Gewerkschaftslandschaft haben: Der 4. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in Erfurt hat seine Absicht bekundet, den „Grundsatz der Tarifeinheit“ aufzugeben. Nun steht die Frage im Raum, ob der 10. Senat des BAG mitzieht oder sich querstellt.
Besagter Grundsatz bestimmt seit 1957, dass in einem Unternehmen grundsätzlich nur ein Tarifvertrag gelten könne. In Verbindung mit dem hierarchischen Aufbau der bestehenden Einheitsgewerkschaften bildet der „Grundsatz der Tarifeinheit“ mit seinem Platzhirsch-Effekt einen der wesentlichen Stützpfeiler des konservativen deutschen Arbeitsrechts.
Die sprichwörtliche deutsche Unerfahrenheit in Sachen Arbeitskampf ist sicherlich auch zurückzuführen auf diese Situation der Rechtsunsicherheit, mit der sich KollegInnen konfrontiert sehen, wenn die Gewerkschaft nicht mitspielt. Aber das BSH-Szenario von 2006 – in dem der Apparat die kampffreudige Mehrheit der Belegschaft satzungskonform im Regen stehen ließ – könnte bald der Vergangenheit angehören, wenn die KollegInnen einer anderen Gewerkschaft beitreten und mit ihr kämpfen können. Denn die Friedenspflicht-Klausel würde nur noch der unterzeichnenden Gewerkschaft und nicht mehr der Belegschaft die Hände binden.
Daher beschwört das Unternehmerlager schon jetzt eine dräuende Rechtsunsicherheit, die „den Standort“ in Dauerstreiks und Unübersichtlichkeit stürzen werde. In der Lage bei Lufthansa erkennen sie ihren fleischgewordenen Alptraum, standen dem Unternehmen im Februar doch die Streikdrohungen dreier Gewerkschaften ins Haus. Es sieht fast so aus, als hätten die abenteuerlichen Auslagerungsstrategien der Chef-Etagen hier ihren gewerkschaftlichen Wiedergänger gefunden: Keine Gewerkschaft kann es sich mehr leisten, mit dürftigen Abschlüssen die Basis zu verprellen.
Aber Achtung, ganz so weit ist es noch nicht! Kehren wir auf den Boden der Tatsachen zurück: Bisher war und ist es so, führt das Gericht in seiner Mitteilung aus, dass Fragen der „Tarifpluralität … dahin aufgelöst werden, dass der speziellere Tarifvertrag den anderen Tarifvertrag im Betrieb verdrängt.“ Eben hierauf stützen sich die sog. Spartengewerkschaften. Das Gericht beabsichtigt nun, dass ein Tarifvertrag „aufgrund der beiderseitigen Mitgliedschaft in den tarifschließenden Koalitionen unmittelbar und zwingend“ gelten soll. Der 4. Senat schränkt jedoch ein, dass sich diese Frage nur bei der „Verdrängung eines geltenden Tarifvertrages“ stelle.
Tür und Tor wären für kämpferische Basisgewerkschaften also nicht gerade sperrangelweit geöffnet, wenn der 10. Senat im Juni dieser Grundsatzänderung zustimmen sollte. Das belegt sehr anschaulich auch das Skandalurteil des Arbeitsgerichts gegen die FAU Berlin (siehe Special zur Gewerkschaftsfreiheit in dieser Ausgabe). Dennoch dürfte sich die Rahmenlage für kommende Kämpfe verbessern, wenn die „verfassungsrechtlich vorgesehene Tarifpluralität“ an Gewicht gewinnt. Ob damit, wie Kritiker befürchten, eine Abkehr vom Prinzip der Industriegewerkschaft und die Zersplitterung der Belegschaften in Klientel- und Statusgruppen einhergeht, ist keineswegs ausgemacht. Schließlich ist es Aufgabe der Gewerkschaften und nicht der Gerichte, die Einigkeit und Schlagkraft der Belegschaft zu befördern.